Wolfgang Rihm
...fleuve V (omnia tempus habent)
Kurz-Instrumentierung: 4 4 6 4 - 4 6 4 2 - Pk, Schl(7), Hf, Str
Dauer: 80'
Solisten:
Mezzosopran, Bariton
Instrumentierungsdetails:
1. Flöte
2. Flöte
3. Flöte
4. Flöte (+Picc)
1. Oboe
2. Oboe
3. Oboe (+Eh)
Englischhorn
1. Klarinette in A
2. Klarinette in A
3. Klarinette in A
4. Klarinette in A
1. Bassklarinette in B
2. Bassklarinette in B
1. Fagott
2. Fagott
3. Fagott (+Kfg)
Kontrafagott
1. Horn in F
2. Horn in F
3. Horn in F
4. Horn in F
1. kleine Trompete
2. kleine Trompete
1. Trompete in C
2. Trompete in C
3. Trompete in C (in der Ferne)
4. Trompete in C (in der Ferne)
1. Posaune
2. Posaune
3. Posaune
4. Posaune
1. Kontrabasstuba
2. Kontrabasstuba
Pauken
1. Schlagzeug
2. Schlagzeug
3. Schlagzeug
4. Schlagzeug
5. Schlagzeug (in der Ferne)
6. Schlagzeug (in der Ferne)
7. Schlagzeug (in der Ferne)
Harfe
Violine I
Violine II
Viola
Violoncello
Kontrabass
Rihm - ...fleuve V (omnia tempus habent) für Mezzosopran, Bariton und Orchester
Übersetzung, Abdrucke und mehr
Wolfgang Rihm
Rihm: "...fleuve V (omnia tempus habent)"Instrumentierung: für Mezzosopran, Bariton und Orchester
Ausgabeart: Studienpartitur
Hörbeispiel
Werkeinführung
"Seit einiger Zeit schon spüre ich in mir den Wunsch wachsen, für meine Instrumentalmusik etwas zurückzugewinnen, das ich mit dem Begriff 'Fluß' bezeichnen könnte. Lange arbeite ich auf das scharf isolierte und unverbundene musikalische Einzelereignis hin; und die Erfahrung dieses Hinarbeitens half mir, Formen zu finden, die nicht einzig aus dem Ablauf ihrer Energien bestanden, sondern etwas vortrugen, das mir wie das Entstehen, Stauen und Umgestaltetwerden von Energie-Partikeln erscheint." (Rihm 1995)
Schon seit seinen ersten kompositorischen Versuchen in den frühen 1970er Jahren hat Wolfgang Rihm eine Musikästhetik postuliert, in der die Konzeption eines emphatisch-dynamischen Formbegriffs eine entscheidende Rolle spielt. Das meint: Die Komposition eines Stückes gestaltet sich wesentlich als die Suche nach eben diesem Stück selber, wobei sich der Komponist eher als ein unruhig Getriebener denn als ein architektonisch-rational Planender versteht, wie dieses noch überwiegend im Selbstverständnis der Neuen Musik der 1960er Jahre anzutreffen war. In diesem Sinne erweist sich auch Rihms Anfang der 1990er Jahren begonnenes Symphonieprojekt Vers une symphonie fleuve als die diffizile Suche nach einer imaginären "Symphonie fleuve": "So denke ich mir, daß in den nächsten Jahren Orchesterstücke entstehen, die hin zu dieser symphonie fleuve fließen, zu einer Symphonie, die mir noch unbekannt ist, einmal aber da sein wird, unabgeschlossen, durchlässig, ihr eigener Fluß." (Rihm 1995).
Ein vielschichtige Unternehmung also, die zugleich auch das grundlegende Dilemma der Gattung "Symphonie" nach Beethoven berührt, dem das eigentlich Unmögliche gelang - nämlich die Konstituierung einer "Ideal-Symphonie" sowohl im Zyklus von neun Symphonien als auch im konkreten Einzelwerk, eben seiner großen d-Moll Symphonie, op. 125 (der "Neunten"), aufgehen zu lassen, die per se die Gattung exemplarisch repräsentiert. Diese einzigartige Dualität von symphonischem Zyklus (alle neun Symphonien) und (!) Einzelwerk (die "Neunte") hat die Symphoniegeschichte nachhaltig geprägt - sehr zum Leidwesen aller Nach-Symphoniker von Rang, die mit dieser Vorgabe und einmaligen Leistung Beethovens erheblich zu kämpfen: Schubert, Mendelssohn, Schumann, Brahms und Bruckner, Mahler, Sibelius. Denn es erwies sich als schlichtweg unmöglich, der später oft geradezu mythisch verklärten Neunzahl der Symphonien Beethovens nachfolgen zu wollen, um schließlich zu einer ominösen "Neunten" zu gelangen, die als dialektisches Ziel der symphonischen Suche zugleich mehr ist als nur das ausschließlich aus dem Zyklus resultierende "Endergebnis". Sich dieser verpflichtenden Tradition zu stellen und erneut auf die "Suche" zu gehen, leistet der Vers une symphonie fleuve-Zyklus Rihms dabei auch vor dem Hintergrund einer weiteren wichtigen Kategorie der Gattung: "Mit gleichem Recht könnte jede meiner Orchesterkompositionen `Symphonie´ heißen. Es ist die Tradition der großdimensionierten Zusammenklangstücke, aus der heraus ich bis jetzt empfand, wenn ich für Orchester komponierte." (Rihm 1976) Das kompositorische Potential symphonischer Musik (auch und gerade im 20. Jahrhundert!) aufgefaßt also auch durch das Zeigen des "symphonischen Apparates" (Carl Dahlhaus), als den im Orchesterinstrumentarium nicht nur rein spieltechnischen, sondern auch klangräumlich-gestalterischen wie großformal angelegten Möglichkeiten.
Neben den formalen Gattungsbezügen weist das voluminöse Vers une symphonie fleuve-Projekt Rihms auch eine Mehrfachbündelung literarischer Sujets auf. So spielt der Titel symphonie fleuve auf einen mehrdeutigen literarischen Hintergrund an, der hier unterschiedlich musikalisch umgesetzt wurde: Romain Rollands Roman fleuve, für den wechselnde Erzählperspektiven - mal langsam, mal schnell - kennzeichnend sind (in der Musik im "kontrastierenden Wechsel von Fluß und Stillstand, Entwicklung und Beharren" komponiert, in Analogie auch zu der für den frühen Rihm wichtigen Ästhetik Gustav Mahlers); der Gattung des Roman fleuve insgesamt, wie dieser von französischen Autoren des 19. Jahrhunderts geprägt worden ist (Honore de Balzac, Romain Rolland und Emile Zola), entsprechend auch zu deutschsprachigen Autoren des 20. Jahrhunderts wie Hans Henny Jahnns (1894-1959) Fluß ohne Ufer (Teil 1 und 2: 1949/ 50, Teil 3: 1961) sowie Hubert Fichtes (1935-1986) 19bändiges, unvollendetes Projekt Geschichte der Empfindlichkeit (1987ff.): "1979 traf ich Hubert Fichte [...]. Und dann sprach er kurz von der Idee eines 'Roman fleuve', einer Erzählstruktur, in der die Teile immer wieder in neuen Konstellationen erscheinen und verschwinden - nicht absehbar, keinem vordergründigen Plan gehorchend, scheinbar. In Rom 1979/ 80 versuchte ich Jahnns 'Fluß ohne Ufer' zu lesen, ein erster Versuch, der mißlang. Jahre später gelang zumindest der Eintritt, wieder verlor ich´s. So ging es weiter: begonnen - verloren - wiederbeginnen - wiederverlieren ... Von allen Seiten versuchte ich Eintritte, nach allen Seiten erfolgtes Verlorengehen. Vielleicht: Die mir einzig mögliche Annäherungsweise an dieses Gebirge aus Strömung." (Rihm 1995) Ferner ist hier noch Adornos berühmter Text Vers une musique informelle (1961) anzuführen, auf den der Titel Vers une symphonie fleuve ebenso anspielt, wobei sich Adornos Konzept einer "informellen Musik" in zahlreichen Details wie eine Vorformulierung diverser musikästhetischer Positionen Rihms liest - als eine "Musik, die alle ihr äußerlich, abstrakt, starr gegenüberstehenden Formen abgeworfen hat, die aber, vollkommen frei von heteronom Auferlegten und ihr Fremden, doch objektiv zwingend im Phänomen, nicht in diesen auswendigen Gesetzmäßigkeiten sich konstituiert." (Adorno 1961)
Die Genesis des Vers une symphonie fleuve-Zyklus basiert auf einer Art von "Parodietechnik", indem aus den zwei Ursprungsstücken für Bläser und Schlagzeug et nunc I und II (1992-1993) die Vers une symphonie fleuve I-V-Werke entwickelt wurden. Hierbei ist in Vers une symphonie fleuve I die Form von et nunc II im Ganzen beibehalten, während bei geänderter Bläserinstrumentation neu komponierte Gegenparts in den Streichern hinzutreten. Ein Verfahren also, wobei ein älteres Werk durch neue musikalische Schichten erweitert und somit gleichsam "übermalt" wird - was ein weiteres Stichwort benennt, auf das sich Rihm für sein Schaffen der 1990er Jahre mehrfach berufen hat: nämlich die Nähe seines Komponierens in bewußter Analogie zur Technik der Bild-"Übermalungen" des österreichischen Malers Arnulf Rainer.
In den folgenden Entwicklungsstufen von Vers une symphonie fleuve II-V zeigen sich umfangreiche formal-inhaltliche Erweiterungen besonders in Vers une symphonie fleuve IV und V: So weist Vers une symphonie fleuve IV einen neu ergänzten Anfangs- sowie Schlußteil auf, die den aus Vers une symphonie fleuve III entwickelten Mittelteil von T. 101-346 umrahmen, der zudem diverse neu komponierte Gegenparts enthält. Und noch gewichtiger gestaltet sich die formale Gesamtanlage von Vers une symphonie fleuve V: Auf einen neu komponierten Vorblock nebst Überleitung folgt die modifizierte und mit Einschüben versehene Version von Vers une symphonie fleuve IV; daran schließt sich eine Überleitung zum Einschub der fast gänzlich unmodifizierten Orchesterkomposition "Spiegel und Fluß (Nachspiel und Vorspiel für Orchester)" (1999) an, worauf die Salomo-Vertonung für Sopran und Bariton aus dem "Prediger Salomo: 3. Kapitel 1-8" (Lutherübersetzung) - "Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vornehmen unter dem Himmel hat seine Stunde" - das Werk beschließt! In dieser komplexen Großanlage von Vers une symphonie fleuve V wird ein weiterer symphoniegeschichtlicher Topos evident - nämlich jenes für die Gattung vor allem im 19. Jahrhundert so charakteristische Einholen einer Mehrsätzigkeit in der Einsätzigkeit, mit der Satzfolge: I "Vorblock" (= symphonische Einleitung), II "modifiziertes Vers une symphonie fleuve IV" (= Kopfsatz), III "Spiegel und Fluß" (= langsamer Mittensatz: "Andante") und IV "Salomo-Vertonung" (= Finale mit Gesangsstimmen).
In dieser nun wahrhaft "raumöffnenden" Dimensionierung offenbart Vers une symphonie fleuve V seine symphonischen Qualitäten als epische Konzeption, ganz im Sinne von Rihms symphonischem "Alter ego" Gustav Mahler, dessen symphonisches Œuvre in der Adorno-Formel "musikalische Prosa als Roman" (Adorno 1960) eine exemplarische Umschreibung fand und von Mahler selber einmal wie folgt charakterisiert worden ist: "Nun aber denke Dir ein so großes Werk, in welchem sich in der Tat die ganze Welt spiegelt - man ist sozusagen selbst nur ein Instrument, auf dem das Universum spielt". (Mahler 1896) Diesem Attribut einer metaphorischen "Weltschaffung" der Gattung folgend setzt Vers une symphonie fleuve V die symphonische Suche Rihms konsequent fort - analog zum epischen Anspruchs des Romans, der, wie die Symphonie, "auf einen breiten Weltentwurf, auf ein Entwerfen neuer Wirklichkeit" angelegt ist (so der Germanist Bruno Hillebrand 1993).
Joachim Brügge, Text zur Aufführung der EXPO 2000.