Darius Milhaud
L'Homme et son désir
Kurz-Instrumentierung: 2 1 2 0 - 0 1 0 0 - Schl(6), Hf, Vokalquartett, Str(1 1 1 1 1)
Dauer: 25'
Instrumentierungsdetails:
kleine Flöte
Flöte
Oboe
Klarinette in B
Bassklarinette in B
Trompete in C
<BR>Schlagzeug (6): Becken, Kastagnetten, große Trommel (A), Baskische Trommel, Provenzalisches Tamburin, Tenortrommel, Paitsche, Triangel, Rührtrommel, <BR>Schellen und Becken (können von den Tänzern selbst gespielt werden), Windmaschine, Hammer mit Brett, kleine Trommel, Pfeife, Sirene, Tamtam, Becken (B), Kastagnetten, große Trommel (B)
Harfe
Violine I
Violine II
Viola
Violoncello
Kontrabass
Milhaud - L'Homme et son désir
Werkeinführung
L'homme et son désir ist
das Ergebnis einer Arbeit dreier Freunde, die während des Jahres 1917 jeden
Sonntag auf der Rio de Janeiro beherrschenden Sierra ein Picknick von Ideen,
Musik und Zeichnungen gehalten hatten. Dieses kleine Drama ist aus der Stimmung
des brasilianischen Waldes erwachsen, in dem wir gewissermaßen untergegangen
waren und der fast die einförmige Beschaffenheit eines Elements besitzt.
Eigenartig, wenn die Nacht einbricht und der Wald von Unruhe, Schreien und
Schimmern erfüllt ist. Eine dieser Nächte beabsichtigt unsere Dichtung
darzustellen. Wir haben nicht versucht, die unentwirrbare Fülle der „floresta“
mit fotografischer Deutlichkeit wiederzugeben, sondern sie ganz einfach wie
einen Teppich auf die vier Ebenen unserer Bühne gelegt: etwas Violett, Grün und
Blau um das zentrale Schwarz. Der Zuschauer sieht die Ebenen vertikal
übereinander angeordnet, genauso wie ein Bild oder ein Buch, das man liest.
Oder – wenn man will – eine Notenseite, auf der jede Handlung als eigene Zeile
notiert ist. Auf der höchsten Ebene wandeln die Stunden der Nacht, schwarz und
mit Gold bedeckt. Darunter wird der Mond von einer Wolke über den Himmel
geführt, wie einer Dame die Dienerin vorangeht. Ganz unten, in den Wässern des
Sumpfes, folgt der Widerschein des Mondes und seiner Dienerin dem regelmäßigen
Gang des himmlischen Paares. Das eigentliche Drama spielt auf der mittleren
Ebene, zwischen Himmel und Wasser. Die Hauptfigur ist der Mensch; wieder den
ursprünglichen Mächten verfallen, entführen ihm Nacht und Schlaf Namen und
Gesicht. Er erscheint, scheinbar geführt von zwei verschleierten und einander
gleichenden Gestalten, die ihn durch Herumdrehen verwirren, wie ein Kind beim
Blindekuh-Spiel. Sie stellen das Bild und die Sehnsucht, die Erinnerung und die
Illusion dar. Die Beiden verspotten einen Augenblick den Menschen, dann
verschwinden sie.
Der Mensch bleibt stehen; im
Schein des tropischen Mondes schläft er mit ausgestreckten Armen wie ein
Ertrunkener in tiefem Gewässer. Und alle Tiere, alle Geräusche des ewigen
Urwaldes heben sich aus dem Orchester, sehen ihn an und lassen ihre Stimme in
seinem Ohr ertönen: die Schellen, die Flöte des Pan, die Streicher und die
Becken.
Der Mensch beginnt sich in
seinem Traum zu regen. Er bewegt sich und tanzt. Er tanzt den ewigen Tanz der
Sehnsucht, des Verlangens und der Verbannung, der Gefangenen und verlassenen
Geliebten, den Tanz, der die Fiebrigen, Schlaflosen peinigt und sie Nächte
hindurch auf ihren Veranden auf- und abgehen lässt, den Tanz der in ihren
Käfigen eingesperrten Tiere, die sich immer und immer wieder gegen das
unüberwindbare Gitter werfen. Bald ist es eine Hand, die den Menschen ergreift
und zurückholt, bald ein Duft, in dem sich jede Energie auflöst. Das Thema der
Besessenheit wird immer heftiger, rasender und nun – in jener feierlichen und
tiefen Finsternis vor Tagesanbruch – kommt eine der weiblichen Gestalten zurück
und kreist wie verzaubert um den Menschen. Ist es eine Tote? Ist es eine
Lebende? Der Schlafende fasst einen Zipfel ihres Schleiers, und während sie
sich um ihn dreht, hüllt sie ihn mehr und mehr in das Gewebe, bis er in ihm wie
in einen Kokon versponnen steht und sie fast nackt scheint. Vereinigt durch den
letzten Fetzen eines Stoffes ähnlich unseren Träumen, bedeckt die Frau das
Gesicht des Mannes mit ihrer Hand. Beide entfernen sich. Nur noch der
Widerschein des Mondes und seiner Dienerin sind ganz unten sichtbar.
Die schwarzen Stunden haben
ihren Weg abgeschritten, die ersten weißen Stunden werden sichtbar.
Paul Claudel