Luciano Berio
a - ronne
Dauer: 32'
Text von: Edoardo Sanguineti
Widmung: to Ward and The Swingles II
Chor: 2S, 2A, 2T, 2B
Berio - a - ronne für 8 Sänger
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Werkeinführung
Der Gegenstand von a - ronne (1974-1975, ursprünglich für Tonband konzipiert, später für acht Stimmen überarbeitet) ist die einfache Vokalisierung eines Textes und seine Transformation in etwas vielleicht genauso Einfaches, aber schwierig Definierbares.
Dies ist in der Tat keine musikalische Komposition im herkömmlichen Sinne des Wortes, selbst wenn die Prozesse, die seinem Verlauf oft zugrunde liegen, musikalischer Natur sind (der Gebrauch von Tonfall und Intonation, die Entwicklung von Alliterationen und von Übergängen zwischen Klang und Geräusch, gelegentliche Verwendung von einfachen Melodien; Mehrstimmigkeit und Heterophonie).
a - ronne versucht den Nachweis zu erbringen, dass es unendlich viele Möglichkeiten gibt, mit den Mitteln der Musik und ihrer Verwendung von Wortmaterialien Sinn zu schaffen. a - ronne ist eine Dokumentation auf ein Gedicht von Edoardo Sanguineti so wie man von einer Dokumentation über ein Gemälde oder ein exotisches Land spricht. Das Gedicht von Sanguineti wird nicht wie ein Text behandelt, den es in Musik zu setzen gilt, sondern mehr wie ein Text, den es zu analysieren gilt, oder den man als Auslöser bedeutungsvoller Funktionen verwenden möchte. Doch a - ronne ist gleichzeitig eine Art von madrigale rappresentativo – jenem Theater fürs Ohr vom Ende des italienischen 16. Jahrhunderts – und ein naives Lautgemälde, weil das weite Feld der aufgefächerten Situationen, so zahlreich sie auch sein mögen, durchweg elementaren Situationen, erkennbaren und of sehr familiären Gefühlen verbunden bleibt: der Begegnung von Freunden, Gesprächen auf dem Marktplatz, Sprachtherapie, Beichtstuhl, Kaserne, Schlafzimmer, usw.
Sanguinetis Gedicht – in a - ronne etwa zwanzig Mal wiederholt, meistens vom Anfang bis Ende – exponiert drei Themen: im ersten Teil der „Anfang“, im zweiten die „Mitte“ und im dritten das „Ende“. Das Gedicht ist streng auf Zitate in verschiedenen Sprachen gebaut, angefangen vom Evangelium des Johannes (auf Lateinisch, Griechisch und Deutsch; in Luthers Übersetzung; und mit von Goethe vorgenommenen Änderungen in Faust) bis ein Gedicht von T.S. Eliot; von einem Gedicht Dantes bis zum ersten Satz im kommunistischen Manifest; von einigen wenigen Worten aus einem Essay von Roland Barthes bis zu den letzten drei Zeichen, mit denen das alte italienische Alphabet nach der Buchstabe „z“ endet: ette, conne, ronne. Daher rührt die inzwischen in Vergessenheit geratene Redewendung „von A bis Ronne“, statt „von A bis Z“. Auf diese Weise ist dieses Gedicht auch eine höchst artikulierte und nicht kontinuierliche Reihenfolge von Redensarten.
Die gesungenen Passagen besitzen keine autonome musikalische Bedeutung. Die sind bloß Momente unter vielen Anderen – und vielleicht die Einfachsten – in der Liturgie vokaler Gesten. Nur der kurze letzte Abschnitt, auf eine Reihe von einfachsten harmonischen „Alliterationen“ basierend, hat seine eigene musikalische Autonomie. Der musikalische Sinn von a - ronne liegt also nicht in den gesungenen Teilen sondern in der Beziehung zwischen dem geschriebenen Text und der „Grammatik“ des vokalen Verhaltens, zwischen einem Gedicht, das gegenüber seine Worte unablässig treu bleibt und einer vokalen Artikulation, die seine Bedeutung und sein Beziehungsnetz ständig modifiziert. So geschieht also, dass die zwei Schichten (die des geschriebenen Texts sowie des vokalen Verhaltens) immer anders aufeinander wirken, und ständig neue Bedeutungen hervorbringen. Das hat eine direkte Analogie zu dem, was in der vokalen Musik und in der täglichen Sprache passiert, wo die Beziehung zwischen den zwei Schichten (die grammatische und die akustische) grundsätzlich verantwortlich ist für die unendliche Möglichkeiten inhärent in der menschlichen Sprache und des Gesanges.
Luciano Berio