Manfred Gurlitt
*6. September 1890
†29. April 1972
Werke von Manfred Gurlitt
Biographie
Die äußeren Umstände kehrten sich gegen ihn, er war vom Pech verfolgt: der Komponist und Dirigent Manfred Gurlitt, 1890 in Berlin geboren und ausgebildet bei Engelbert Humperdinck und Karl Muck. Die Nazis straften ihn mit Berufsverbot, während Opportunisten wie Egk, Orff, Pfitzner und Strauss im Glanze des Hakenkreuzes aufblühten. Gurlitt floh nach Japan, wohin er auch nach dem Krieg wieder zurückfand, als sein Versuch gescheitert war, in der republikanischen Heimat noch einmal Fuß zu fassen. Er starb 81-jährig in Tokio. Seine Musik geriet in Vergessenheit: Lieder und Kammermusik, Symphonisches und Szenisches. Zwischen Spätromantik, Neoklassizismus, Dodekaphonie und freier Atonalität hatte er sich ein hochexpressionistisches Eigenprofil geschaffen.
Politisch dachte Gurlitt links; die sozialkritisch motivierte Auswahl seiner Opernsujets qualifizierten ihn als eine intellektuell wie literarisch differenzierte Persönlichkeit. Doch wurde die Duplizität der Ereignisse dem Komponisten zum Verhängnis: Seine Vertonung des Wozzeck überkreuzte sich mit dem Jahrhundertwerk Alban Bergs - nur vier Monate nach dessen spektakulärer Uraufführung (1925) in der Berliner Staatsoper brachte Gurlitt, damals Bremer Generalmusikdirektor, das eigene Opus in der Hansestadt heraus. Auch seine fünf Jahre später nach der Komödie von Jakob Michael Reinhold Lenz komponierte Soldaten-Oper bekam übermächtige Konkurrenz: Mit der gleichnamigen, bislang unübertroffenen Avantgarde-Oper drängte ihn drei Jahrzehnte später der Kölner Bernd Alois Zimmermann ins Abseits.
Gleichwohl erweist sich Gurlitts Wozzeck als ein Hauptwerk des musikalischen Expressionismus: eingespielt für CD (Capriccio 60052-1, Vertrieb über Delta Music) mit vorzüglichen Solisten, dem Rias-Kammerchor und Rundfunkchor Berlin sowie dem Deutschen Symphonie-Orchester Berlin unter Leitung von Gerd Albrecht. Das Gute ist hier keineswegs der Feind des Besseren.
Anders als Alban Berg, der von den insgesamt 26 Szenen des Woyzeck-Fragmentes Georg Büchners (in der Titel, Texte und Figuren fälschenden Bearbeitung von Karl Emil Franzos) fünfzehn Szenen auswählte und auf drei Akte verteilte, entnahm Manfred Gurlitt derselben Textgrundlage achtzehn Szenen, denen er einen Epilog hinzufügte. Sie sind ohne Akt-Aufschlüsselung aneinandergereiht. Formal mag Gurlitt damit Büchners Intention genauer als Berg gefolgt sein, zumal er weder versucht hat, die originalen sprachlichen Derbheiten zu mildern noch mit ausladenden Zwischenspielen glättende 'Übergänge' zu konstruieren.
Gurlitts Oper setzt in der Figurencharakteristik eigene Akzente, enthüllt Geschehnisse - etwa die zentrale Märchenschilderung -, die Berg außer acht ließ. Der Zynismus erniedrigender medizinischer Versuchskarnickelei hingegen wird ausgespart. Es ist unbegreiflich, warum dieses brisante, in den Ausdrucksmitteln höchst subtile, teils filigrane, teils auftrumpfende Werk im Verborgenen hat bleiben können. Albrecht sei Dank: Ihm ist wieder einmal eine Schatzhebung der besten Sorte gelungen. Sie könnte Geschichte machen.