Wolfgang Florey
Wer aus dem Feuer spricht
Dauer: 36'
Chor: Frauenchor
Solisten:
baritone
Instrumentierungsdetails:
Pauken
Schlagzeug
Klavier (+Klav)
Wer aus dem Feuer spricht
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Werkeinführung
Gegen Ende Oktober 20 erschien in der NZZ ein Essay von Giorgio Agamben. Er hat mich, nicht zuletzt durch die kongeniale Übersetzung von Barbara Hallensleben, mit seiner poetischen Kraft wirklich gepackt. Vordergründig mag es dem Verfasser um die aktuellen Maßnahmen in der Pandemie gegangen sein, aber sein Text greift weit darüber hinaus. Zwei Sätze waren dem Artikel vorangestellt, die deutlich machen, worum es ihm geht: Zeugnis ablegen von unserer Gegenwart – und: Die Zivilisation wird nicht mehr dieselbe gewesen sein.
Während Michel Foucaults berühmter Satz vom Verschwinden des Menschen noch auf eine unbestimmte Zukunft zielt, holt Giorgio Agamben diese Vision in die Gegenwart. „Wie ein Gesicht aus Sand, das die Welle am Ufer getilgt hat, verschwindet heute der Mensch.“ Nicht irgendwann, sondern heute. Wenn wir nur wollen, so können wir die Vorzeichen des Verschwindens des Menschen deutlich erkennen.
Seiner Eigenverantwortung langsam entwöhnt, begibt der Mensch sich mehr und mehr seiner Selbstbestimmung. Er unterwirft sich, entweder, weil Not ihn dazu zwingt oder die Bequemlichkeit ihn verleitet, ihm gänzlich undurchschaubaren Mächten. Zwar war immer schon das Geld eine Quelle der Macht, doch beriefen sich in den alten Zeiten die Könige und Kaiser auf die Gnade Gottes. Doch diejenigen, die heute die Welt regieren, hat kein Gott je zur Herrschaft ermächtigt. Die alten Götter sind lange schon tot. Jetzt regiert das Geld ganz alleine. Von seiner Gültigkeit hängt alles ab. Es ist das Maß aller Dinge. Wertschätzung und Geldwert sind eins. Alles hat seinen Preis. Geld schafft dem Menschen Unterhalt und Unterhaltung.
Der Mensch lässt sich gerne beschwatzen. Offensichtlich auch von einer korrumpierten politischen Klasse, die ihre Entscheidungen dem Anschein nach auf wissenschaftliche Evidenz und Empirie stützt. Derart raffiniert getäuscht, unterwirft er sich folgsam der staatlich-bürokratischen, wissenschaftlich-technologischen und geheimdienstlich-polizeilichen Effizienz. Ebenso lässt sich der heutige Mensch gerne bespaßen von einer genau so korrumpierten intellektuellen und künstlerischen Elite, die sich auf die Fesselung der Aufmerksamkeit und die Manipulation des Bewusstseins versteht.
Die Entmündigung des Menschen hat große Fortschritte gemacht. Der Zuruf Kants, „habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“, verhallt ungehört in den Weiten eines öffentlichen Diskurses, der intellektuell verwahrlost und ökonomisch korrumpiert ist. Von individuell selbstverschuldeter Unmündigkeit kann kaum mehr gesprochen werden. Ist aber die Unmündigkeit allgemein, wird sichtbar, dass die Menschen unter eine Vormundschaft gestellt sind, aus der es kein Entkommen gibt. Der Einzelnen mag seine individuelle Faulheit, Feigheit und Bequemlichkeit ruhig überwinden, es hilft ihm doch nichts. Er stünde einsam und sozial isoliert im echolosen Raum seiner mutigen Aufgeklärtheit.
Das Scheitern der Aufklärung allein jedoch bringt den Menschen selbst noch lange nicht zum Verschwinden. Aber das Scheitern befördert das Tempo der Katastrophe. Denn der in jeder Weise gleichgeschaltete und seiner Individualität beraubte Mensch, ist endlich das, was er sein soll: ein willenlos steuerbares Objekt. Jedem menschlichen Handeln ist ein potentielles Versagen eingeschrieben. Der handelnde, tätige Mensch ist eine Gefahrenquelle. Und er ist dies nicht nur potentiell, sondern der Mensch begreift sich unter dem Diktum der drohenden Umweltkatastrophen selbst als die eigentliche Ursache des drohenden Unheils. Darum erscheint es nur folgerichtig, wenn im Sinne einer besseren Zukunft unserer Erde der Mensch als handelndes Subjekt zum Verschwinden gebracht wird. Die Auslöschung eines menschlich selbstbestimmten Seins ist darum das eigentliche Ziel aller Anstrengungen auf dem Gebiet der Entwicklung der künstlichen Intelligenz.
Freilich hat das Verschwinden des Menschen noch eine ganz andere Dimension.
Wir werden in diesen Tagen wieder daran erinnert, dass zu den bestimmenden Elementen der Politik, also der Herrschaft von Menschen über Menschen, auch die militärische Sicherung der staatlichen Machtbereiche und das Führen von Kriegen gehören. Weil, „der Kapitalismus den Krieg in sich trägt, wie die Wolke den Regen“, - um den französischen Sozialisten Jean Jaurès zu zitieren - stehen wir am Abgrund eines Krieges, der den Einsatz von ABC-Massenvernichtungswaffen wieder möglich erscheinen lässt. Die drohende Gefahr einer Vernichtung der Menschheit durch die Arsenale von atomaren, biologischen und chemischen Waffen schien in den zurückliegenden Jahren schon ganz aus der Rhetorik des politischen Alltags verschwunden. Tatsächlich aber wurden die Waffensysteme währenddessen ständig erneuert und ihr Wirkungsgrad erhöht. Ein mutmaßlicher Unfall in einem Forschungslabor hat, wie man annehmen muss, im Herbst 2019 eine Pandemie verursacht, die weltweit zu Maßnahmen geführt hat, an deren Folgen die Menschheit noch Jahrzehnte zu tragen haben wird.
Die näherkommenden Flammen sind nicht mehr zu übersehen. Brennende Konflikte sind überall sichtbar. Und nicht mehr zu überhören sind die versengenden Worte der Brandreden der Kriegstreiber.
Aus dem Feuer selbst aber spricht eine andere Stimme: die Stimme des Friedens. Und die Stimme des Friedens ist immer eine der Wahrheit verpflichtete Stimme.
Jedes Sprechen reiht ja nicht nur Wort an Wort, sondern gibt seinen wahren Grund in seinem Tonfall zu erkennen. Zur Wahrheit findet die Sprache endgültig in der Poesie des Gesangs.
Das Wahrsagen gehört von alters her zu den Begabungen von Frauen. Frauen waren die wahrsagenden Priesterinnen des delphischen Orakels; Frauen die vorchristlichen Sybillen des Orients und des Südens; die Stimmen der Frauen zeugen von dem transzendenten Ursprung ihrer seherischen Kraft. Singend kündeten sie wahr. Deshalb kommt einem Chor von Frauenstimmen in dieser Komposition die Aufgabe zu, ihr Wissen und Vorwissen aussprechen. Die Rolle des solistischen Gegenparts, die Funktion der männlichen Gesangstimme, bleibt dagegen im Realen praktischer Erfahrungen verhaftet. Sie behauptet ihre im guten Sinn naive Männlichkeit. Der Charakter der Figur ist geprägt von trotziger Bestimmtheit und Selbstbewusstsein.
Die Musik insgesamt erzählt ihre eigene Geschichte. Und das im doppelten Sinn. Sie folgt zum einen der Geschichte des Textes, stützt in ihrer dramaturgischen Funktion den Spannungsverlauf des Dialogs zwischen dem vierstimmigen Chor der Frauen und der Solostimme. Andererseits erinnert sie rückbezüglich an musikhistorische Modelle: modales Psalmodieren und einfache Liedform; polyphones Madrigal und homophoner Choralsatz; frei schwebende Melodik ohne metrische Bindung und rhythmisch scharf akzentuierende Perkussion; derbes Marschgehabe und wilder Dreivierteltakt paraphrasieren üble musikantische Praktiken. All das lädt ein zu einer ungemütlichen Geisterbahnfahrt durch die Ruinen der Musikgeschichte. Dem Materialbegriff der jüngeren Musikgeschichte setzt der Komponist seine aufs Semantische gerichtete Musikauffassung entgegen. Ihm gilt es, den Text mit musikalischen Mitteln zu verdeutlichen und damit im Gedächtnis der Zuhörer Spuren zu hinterlassen.
Wolfgang Florey
Berlin, im Juni 2022