Georges Lentz
Ngangkar
Kurz-Instrumentierung: 1 0 2 0 - 4 3 3 0 - Schl(3), Hf, Cemb, Klav, Str(14 12 10 8 6)
Dauer: 13'
Widmung: der Stad Eechternach, hirer Abtei an hirem groussen Hellejen For Edo de Waart and the Sydney Symphony Orchestra
Instrumentierungsdetails:
Altflöte in G
1. Klarinette in B (+Bkl(B))
2. Klarinette in B (+Bkl(B))
1. Horn in F
2. Horn in F
3. Horn in F
4. Horn in F
1. Trompete in C
2. Trompete in C
3. Trompete in C
1. Posaune
2. Posaune
3. Posaune
1. Percussion
2. Percussion
3. Percussion
Klavier
Cembalo (+Cel)
Harfe
Violine I (14)
Violine II (12)
Viola (10)
Violoncello (8)
Kontrabass (6)
Lentz - Ngangkar für Orchester
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Hörbeispiel
Werkeinführung
Der Zyklus "Caeli enarrant..." spiegelt sowohl mein Interesse für Astronomie als auch meinen Glauben wider. Bei "Mysterium", dem letzten Teil dieses Zyklus', handelt es sich um ein in seiner Form offenes, konzeptuelles Werk ohne festgelegte Instrumentation. Es besteht aus einer Vielzahl von Blöcken, die man ad libitum zusammensetzen kann. Es lässt sich als eine Art "mystisches Klangnetz" begreifen - abstrakte Linien, die im Idealfall zu lesen statt zu spielen sind.
Ursprünglich wurde ich zu "Mysterium" durch die Lektüre über Pythagoras' poetische Vorstellung der Sphärenmusik angeregt, die laut des griechischen Mystikers durch Reibung der himmlischen Sphären erzeugt wird. Sie ist für Gott, jedoch nicht für das menschliche Ohr hörbar. Ich wollte keine Musik schreiben, die sich entwickelt oder entfaltet, sondern die einfach ist. Die einzige Möglichkeit, dies zu erzielen, schien mir, Musik zu schreiben, die nicht klingt, und somit nicht den Gesetzen der Zeit folgt.
Der Wunsch, stille Musik zu komponieren, mag naiv, sogar anmaßend klingen. Der Versuch eines derartigen Projekts erweckt zumeist den Eindruck überhöhter Ambitionen. Im wirklichen Leben kann diese Musik selbstverständlich wie jede andere Musik auch nur durch Ausführende zum Leben erweckt werden. Obwohl eine Aufführung im Gegensatz zur Lesung die endlosen Möglichkeiten des Konzepts ganz klar einschränkt, was sowohl Struktur und Timbre als auch den Zeitfluss betrifft, handelt es sich um den einzigen Weg, das Werk zu vermitteln. Dennoch wird die Aufführung dieses Stücks für den Zuhörer stets nichts weiter als eine Art Hilfestellung bieten - eine Annäherung an ein unerreichbares Ideal.
"Mysterium" ist durchgehend sanft. Lediglich Kontraste erzeugen Spannung: Kontraste zwischen Klang und Stille, tonalen und Viertelton-Elementen, homophonem und äußerst komplexem polyphonen Material, einem gleichmäßigen Viertelschlag und graphisch notierten rhythmischen Unregelmäßigkeiten, zwischen erweiterter und verkürzter Zeit. Mein Ziel war, die purste Art von Musik zu komponieren. Daher rühren auch die strengen, selbst auferlegten Einschränkungen bezüglich Dynamik (kaum dynamischer Kontrast), Textur (homophone Linien, die sich eventuell auf meine Liebe zur Gregorianik zurückführen lassen) und Rhythmus (einfaches Viertelschema). Dieses Viertelschema oder -Raster wird oft durch 2 Symbole über der Note unterbrochen, die den Notenwert entweder um das Vierfache verkürzen (Sechzehntel) oder verlängern (Ganze). So entstehen "hinkende" Takte mit sehr unregelmäßigen Schlägen.
Ich stand beim Schreiben von Ngangkar vor der nicht einfachen Frage, wie ich mich als Komponist nach meinem vorherigen Werk "Birrung" weiterentwickeln wollte. "Birrung", ein weiterer Teil aus "Mysterium", zeichnet sich durch extreme Spärlichkeit und Statik aus.
Wie sollte ich meine Komposition im Kontext von "Mysterium" fortführen (was durchaus meine Absicht war), ohne mich zu wiederholen oder Gefahr zu laufen, musikalisch zu vertrocknen? Meine Lösung war, wieder ein leichtes Bewegungs-/Virtuositätselement in mein kompositorisches Vokabular aufzunehmen: Sechzehntelläufe, Vorschläge, Triller, Tremoli, etc. Bewegung lässt sich darüber hinaus auch durch Raumeffekte auf der Bühne (Klang, der sich durch die verschiedenen Gruppen bewegt) oder hinter der Bühne erzeugen (Positionierung der Blechbläser außerhalb des Aufführungsraums, Hörner links, Trompeten und Posaunen rechts). Dies mag nach ganz offensichtlichen Schritten klingen, um sich von der Sterilität zu lösen. Ich habe jedoch monatelang mit mir ringen müssen, bevor ich mich hierzu entschloss ohne das Gefühl, die Reinheit des Konzepts aufzugeben.
Ich begann Ngangkar Ende 1998 an meinem liebsten Kompositionsort zu schreiben, dem alten Pfarrhaus des winzigen Dorfes Ouren an der luxemburgisch-belgischen Grenze. Mein Werk, das ich ein Jahr später in Sydney fertig stellte, ist sicherlich durch die Ruhe dieses kleinen Ortes beeinflusst. Während "Birrung" lediglich ein Arrangement existierender Blöcke aus "Mysterium" darstellt, besteht Ngangkar hauptsächlich aus neuem Material, das eigens zu diesem Zweck komponiert wurde.
Weitere Einflüsse:
a) Das Glasperlenspiel (1943), letzter Roman des deutschen Schriftstellers Hermann Hesse. Ein Buch von großer Gelassenheit und klarer Weisheit. Es wurde nach dem 2. Weltkrieg vielfach kritisiert, da es sich nicht der damaligen düsteren Tagesrealität stellt. Dennoch handelt es sich meiner Meinung nach um ein großartiges literarisches Werk.
b) Australische Kunst der Aborigines, vor allem das Werk der Utopiekünstlerin Emily Kame Kngwarreye und die damit verbundene äußerst expressive Welt des Symbolismus und der Spiritualität. Die typischen, in ihrem Werk verwendeten "Tupfen", die verdeckte Linien überlagern, haben meinen momentanen Kompositionsstil direkt beeinflusst.
Der Titel Ngangkar (Wort der Aborigines für "Stern") spiegelt meine Liebe für den weiten, leeren Raum der australischen Landschaft mit ihrem wunderschönen Sternenhimmel wider. Obwohl selbstverständlich alle Interpretationen gestattet sind, wäre eine Möglichkeit, sich beim Hören des Stücks einen beleuchteten Sternenhimmel mit seinen unterschiedlichen Konstellationen und Konzentrationen vorzustellen, seine Dunkelheit, sein Licht und das gewaltige Ausmaß seiner Stille.
Georges Lentz