Georges Lentz
String Quartet(s)
Dauer: 360'
Lentz - String Quartet(s)
Werkeinführung
Parallel zu meiner Arbeit an Orchesterwerken habe ich mich in den
letzten zehn Jahren immer wieder mit der „Königsgattung” Streichquartett auseinandergesetzt
– sowohl durch Skizzierung zahlreicher eigener Fragmente als auch durch
intensives Hören neuer Kompositionen zeitgenössischer Komponistenkollegen.
Vielleicht war es mein Umgang mit der heute doch oft recht konservativen
Institution „Orchester”, welche in mir immer mehr das Verlangen weckte, all die
mit dieser Institution doch so häufig verbundenen zeitlichen, finanziellen und
technischen Einschränkungen abzustreifen und mir einmal in anderem Rahmen größtmögliche
Freiheit zuzugestehen. Die sich auf meinem Schreibtisch anhäufenden
Quartettskizzen kamen mir hierbei wieder in den Sinn, sowie auch – ja doch – auch
meine Enttäuschung mit den klanglichen Resultaten mancher zeitgenössischer
Quartettkompositionen. Es schien mir, dass viele neue Werke, auch solche mit
Einbeziehung von Live-Elektronik, klanglich nur einen Bruchteil dessen
ausloteten, was heute mit Hilfe digitaler Techniken machbar wäre, und dass man
es doch mal ganz anders versuchen sollte. Ich beschloss daher, auf eine
Live-Aufführung zu verzichten und an einem Musikwerk einzig als Klangspur zu arbeiten,
mit besonderem Interesse für Klänge und Formen, die live nicht machbar wären. Dabei
wollte ich bewusst die heute im Zusammenhang mit allem Digitalem oft
beschworene, modische Interaktivität vermeiden. Vielleicht ist es auch gerade
wegen dieses Beschränkens auf das traditionell Festgelegte und Lineare eines „fertigen”
Werkes für mich wichtig gewesen, meine Arbeit, in ihrer ungewohnten Form und
trotz des zu erwartenden Widerspruchs, nicht lediglich als „Klanginstallation mit
Streichquartettklängen”, sondern als STREICHQUARTETT verstanden zu wissen.
Der von mir hochverehrte kanadische Pianist Glenn Gould vertrat ab den
1960er Jahren die These, dass eine Aufnahme keine bloße Dokumentation eines
Musikstücks oder einer Aufführung ist, sondern – im besten Falle – ein eigenständiges
Kunstwerk an sich sein kann. Auch und gerade viele der anspruchsvolleren
Vertreter heutiger Popmusik (Björk, Radiohead usw.) setzen in ihren Alben eine „post
production” genannte Verarbeitung ihrer Studioaufnahmen zwecks Erzeugung neuer
Klänge ein. In diesem Sinne wandte ich mich in meiner Heimatstadt Sydney an ein
tolles junges Streichquartett, „The Noise”,
und fing an, mit diesen vier sehr aufgeschlossenen Musikern viele Stunden lang
Aufnahmen meiner Streichquartettfragmente der letzten Jahre zu machen. Das „Noise”-Quartett
arbeitet oft mit Kontaktmikrophonen und Pedalen zwecks Verfremdung und
Erweiterung ihrer klanglichen Möglichkeiten; auch Improvisation ist eine Stärke
dieser vier Musikerfreunde, und sie kam bei unseren Aufnahmen ausgiebig zur
Geltung. Wir arbeiteten mit hochwertigen bis bewusst sehr minderwertigen
Mikrophonen; in trockenen/schlechten bis professionellen Akustiken (z. Bsp. im
Konzertsaal der Sydneyer Oper). Wir platzierten die Mikrophone sehr weit von
der Klangquelle entfernt oder aber ließen sie ganz nahe an die vibrierenden
Saiten der Instrumente heran, manchmal bis zur Berührung. Auf diesem Wege
erhielten wir schon bei der Aufnahme die unterschiedlichsten klanglichen
Resultate. Auch das von sehr schlechten Mikrophonen oder überdrehten
Aufnahmelevels erzeugte Hintergrundrauschen wurde mir, nach anfänglicher
Verwerfung, zum verwendbaren musikalischen Material. Über all diesem wurde
eines klar: die AUFNAHME an sich, als Prozess und Medium, mit all ihren Charakteristiken,
Stärken und Schwächen, wurde zu einem Hauptthema der sich entwickelnden
Komposition.
Diese stundenlangen Aufnahmen als Rohmaterial wurden dann in einer nächsten
Phase auf vielfältige Art und Weise per Laptop abgewandelt, verzerrt, geloopt, überlagert,
fragmentiert usw... Viele sowohl klangliche als auch strukturelle Möglichkeiten,
die mit einem Livequartett von vier Musikern auf einer Bühne nicht möglich wären,
eröffneten sich mir/uns in diesem Prozess. Auch die Unzulänglichkeiten der
Editing-Software, welche für viel simplere und kommerziellere Zwecke entwickelt
worden war, ergaben unbeabsichtigte, doch manchmal erstaunliche und kreativ durchaus
nutzbare Klangresultate. Eine verloren geglaubte CD eines Teils unserer Rohaufnahmen
fand ich zerkratzt wieder – und war erstaunt, dass der durch die Kratzer
verursachte ‚digital glitch’ (Klicken) durchaus interessant klangen. Kurz, es
entwickelte sich eine spannende und für mich ganz neue Dynamik des Hin und Her
zwischen kompositorischer Kontrolle und Gehenlassen, Improvisation und Festgelegtem,
Kalkuliertem und mich Überraschendem… Durch die extreme Rauheit mancher Klänge,
die Miteinbeziehung von „Lo-Fi”-Techniken, die Überlagerung von Schichten, das scheinbar
aus dem Stegreif nur so „Hingeworfene” fing ich an, diesen Prozess zunehmend mit
einer Graffiti-Wand zu vergleichen, und ich sehe auch das Endresultat noch gerne
als eine riesige, mit „Audio-Graffiti” besprayte Klangwand.
Früh schon wurde klar, dass dies – allein schon wegen der Fülle an
Ausgangsmaterial – ein äußerst langes Werk werden würde: für manchen mag die
endgültige Länge von sechs Stunden geradezu unsinnig erscheinen! Mich hingegen
reizte es, eine Musik zu schreiben, die wegen ihrer fast unüberblickbaren Länge
nicht auf einmal rezipiert werden kann – oder auch soll. Ich wollte versuchen,
ein Musikwerk zu schaffen, mit dem man sozusagen „leben kann” – von welchem man
vielleicht hier oder da fünf oder auch dreißig Minuten aufnimmt, in dem Wissen,
dass „da noch viel mehr ist” – eine Musik, die man eventuell über Jahre nach
und nach erkunden und kennenlernen kann. Ich wollte mich der riesigen Herausforderung
stellen, in solch ungewohnten Klangdimensionen zu denken und zu gestalten, sie
in eine zwingende, auch emotional nachvollziehbare Struktur zu bringen.
Sinnvoll erscheint mir die Analogie zu einem STERNENHIMMEL, von welchem man
lediglich einen winzigen Ausschnitt sieht, welcher jedoch auf die gigantischen
Ausmaße sowie die schier überwältigende Komplexität, auch auf die (darf ich es
wagen, ein sehr unzeitgemäßes Wort auszusprechen?) Erhabenheit von etwas „viel
Größerem” verweist.
Über Jahre hat meine Lektüre der prophetischen Bücher des großen englischen
Dichters William Blake (1757-1827) und vor allem seines apokalyptischen
Meisterwerks „Jerusalem” (mit Blakes visionären Abbildungen) meinen so
unmodischen Hang zum „Erhabenen” noch bestärkt, und so schien es mir während
der Komposition musikalisch auch zusehends sinnvoll, ja unausweichlich, diese
Klänge, welche ich Tag und Nacht in den Ohren hatte, in irgendeiner Form miteinzubauen
– dies in der Endfassung an zwei kurzen, doch wesentlichen Scharnier-Stellen. Über
den persönlichen Tagebuchcharakter solcher Zitate hinaus eröffneten sich mir
hier Spannungsfelder: zwischen Schwer-Verständlichkeit der anspruchsvollen
Texte und Schwer-Verständlichkeit durch polyphone Stimmüberlagerung der
gesprochenen Texte, zwischen kurzen Textfragmenten und voll ausgelesenen
Passagen, zwischen verschiedenen Zeitebenen (Romantik/21. Jahrhundert) und
einer Art fast mystischer „Überzeitlichkeit/Zeitlosigkeit”, zwischen einer an
Glenn Goulds Radio-Trilogie (Solitude Trilogy, 1967-77) mit ihren ähnlich überlagerten
Stimmen erinnernden Kompositionstechnik und rein instrumentaler Komposition.
Den Titel String Quartet(s) möchte ich nicht allzu konkret erklären. Ich
sehe in dem Plural „...(s)” eine ganze Reihe von möglichen Deutungen und möchte
diese auch durchaus gelten lassen. Erwähnen sollte ich die Pluralität sehr
kurzer Zitatfetzen klassischer Quartette (Haydn, Beethoven, Bartók, Lachenmann…),
welche ich nicht bloß als Reverenz sehe, sondern in ihrer
Zerbrechlichkeit/Zerbrochenheit auch als Hinweis auf die zunehmende
Fragmentierung/Zersplitterung/Kontextlosigkeit/Pluralität/Simultaneität/Unverbindlichkeit
unserer Erfahrung der heutigen Welt. Einheit entsteht hier, wie bei einem
pointillistischen Bild, allenfalls durch Distanz zum Detail.
Als pointillistisch könnte man (in europäisch-westlicher Terminologie
gesprochen und in diesem Zusammenhang natürlich völlig unpassend) auch das aus
dem Jahr 2007 stammende, unbetitelte Bild der australischen Aborigine-Künstlerin
Kathleen Petyarre bezeichnen, welches die Klangspur von String Quartet(s) ergänzt. Das Gemälde (Acryl auf Leinwand, 165 x
120 cm) befindet sich in meinem Besitz und ist mir, genau wie Blakes „Jerusalem”,
seit einigen Jahren bei diesem Projekt ständiger Begleiter. In meinem
Arbeitsraum hängend, hatte ich es wortwörtlich stets vor Augen. In diesem Sinne
ist es für mich nicht bloße „Dekoration” zur Musik, sondern integraler
Bestandteil von String Quartet(s), welcher
im permanenten Dialog mit der Musik Spannungsräume eröffnet: Die bereits erwähnte
Komplexität; die sich auch in der manchmal „punkthaften” Musik wiederfindende Sternenhimmel-Analogie;
die vier offensichtlichen Linien als Sinnbild der vier Streicherlinien sowie
eine Reihe versteckterer Linien; ein im Australien der Ureinwohner noch weniger
abgenutzter Spiritualitätsbegriff; ein Gefühl unendlicher, über den Rahmen
hinausgehender Weite – all dies spricht für mich aus diesem Bild. Aus solchen
Kategorien speist sich nun mal meine Musik.
© Georges Lentz, 2013