In conversation with Bo Dai | CCOM
1. Wie würden Sie Ihre Musik jemandem beschreiben, der sie nicht kennt?
Es gibt keinen wirkungsvolleren Weg, Musik zu beschreiben, als sie direkt zu hören. Ich habe diese Stücke mit spezifischen Absichten, Inspirationsquellen und klanglichen Bildern komponiert, aber ich glaube nicht, dass diese notwendige Bedingungen sind, um die Werke zu schätzen. Wenn ich meine Musik in einfachen Worten beschreiben müsste, würde ich sie als: eine multidirektionale zeitliche Erfahrung, eine kontinuierliche Reflexion über die Geschichte und gegenwartskritisch beschreiben.
2. Wie sieht Ihr Ausbildungshintergrund aus?
Unter meinen Kolleg:innen habe ich meine professionelle Musikausbildung nicht besonders früh begonnen. Vor dem Alter von sieben Jahren konzentrierten sich fast alle Bemühungen meiner Familie darauf, mein angeborenes Glaukom zu behandeln. Trotz dieser Bemühungen verschlechterte sich mein Sehvermögen rapide. Mit sieben Jahren (1995) begann ich, Musik bei Professor Chen Mingda an der Changchun Universität zu studieren. Er war ein energischer, leidenschaftlicher und empathischer Lehrer. Neben dem Klavierunterricht bot er seinen Schüler:innen Kurse in Gehörbildung, Harmonielehre, Kontrapunkt und Partiturlesen an. Diese breit angelegte Lehre weckte mein weitgefächertes Interesse an Musik, aber der Nachteil war, dass all meine Studien an Strenge und Tiefe fehlten.
Infolgedessen wechselte ich im folgenden Jahr zum Klavierstudium bei Professor Liu Shangkun an der Kunstakademie Jilin. Zu dieser Zeit war er der beste Klavierlehrer in unserer Provinz. Während der vier Jahre, die ich bei ihm studierte, baute ich eine solide Grundlage im Klavierspiel auf. Er führte mich auch in die Analyse von Musikstrukturen und Überlegungen zu interpretativen Strategien beim Spielen großer Werke ein. 1997 begann ich, Harmonielehre bei Herrn Wu Daming vom Changchun Filmstudio zu studieren. Mit fortschreitenden Studien führte er mich auch in Komposition, westliche Musikgeschichte und Orchestrierung ein. Er stellte mich einer Vielzahl musikalischer Werke vor, darunter viele avantgardistische Stücke aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, wodurch ich bereits vor dem Alter von zehn Jahren auf die Werke von Boulez, Ligeti, Lutoslawski und Rihm stieß. Er förderte auch meinen guten Musikgeschmack, insbesondere in der Schallplattenbewertung, und brachte mich dazu, die verschiedenen Möglichkeiten des musikalischen Ausdrucks zu berücksichtigen.
2001 wurde ich an die Kompositionsabteilung der angeschlossenen Oberschule des Zentralen Konservatoriums für Musik aufgenommen. 2005 wurde ich zwei Jahre vorzeitig an die Kompositionsabteilung des Zentralen Konservatoriums für Musik zugelassen, wo ich bei Professor Ye Xiaogang Komposition studierte, bis ich 2018 meinen Doktortitel erlangte. Professor Ye hatte einzigartige Einsichten in französische Kunstlieder und eine Fülle von Kammermusik aus dem 19. und 20. Jahrhundert. Er widmete sich der Aufgabe, mir zu helfen, klare Ausdrucksweisen innerhalb komplexer musikalischer Sprachen zu finden. Während meiner Zeit am Konservatorium nahm ich auch an vielen Kursen im Klavierspiel teil, darunter Klavierperformance, Kammermusikperformance, Orchesterkunstrichtung, Klavierkunstgeschichte und historische Aufführungspraxis barocker Musik.
Von 2015 bis 2016 studierte ich kurz Cembalo bei den Professoren Sheng Yuan und Raymond Erickson.
3. Warum haben Sie sich entschieden, Komponist:in zu werden?
Niemand kann klar sagen, was mich dazu brachte, im Alter von neun Jahren entschlossen die Komposition zu verfolgen. In meinen Teenagerjahren konnte ich bereits die Freude spüren, die das Schaffen von Musik mit sich brachte. Das bedeutet jedoch nicht, dass ich eine endlose Inspirationsquelle oder einen unaufhörlichen Wunsch zu komponieren habe. Im Gegenteil, ich fand das Schreiben von Musik immer als einen sehr herausfordernden Prozess, voller Verwirrung und Frustration. Was ich genieße, ist der Prozess der Entdeckung von Schönheit. Mit zunehmendem Alter fühle ich immer mehr, dass Komponieren nicht darin besteht, etwas aus dem Nichts zu schaffen, sondern verborgene Schönheit in der Welt zu entdecken. Mein geschätzter Komponist, Nikolai Medtner, drückte eine ähnliche Ansicht aus. Es ist vergleichbar mit Mathematiker:innen, die fraktale Strukturen entdecken. Wenn es einen weltlichen Grund gibt, der mich dazu brachte, Komponist zu werden, denke ich, dass es die Hoffnung ist, dass mein sehr begrenztes Leben etwas hinterlassen kann, das zukünftige Generationen genießen können.
4. Wie sieht Ihr Prozess beim Komponieren eines Stücks aus?
Ich habe kein festes Muster für das Komponieren. Daher hat jedes Stück einen anderen kreativen Prozess. In der Regel bildet sich ein bestimmtes Klangbild in meinem Kopf, und ich versuche mein Bestes, es zu erfassen, seine verschiedenen Möglichkeiten zu erkunden und es dann zu einem vollständigen Werk zu strukturieren.
5. Was sind Ihre Hauptinspirationsquellen?
Meine Inspirationsquellen sind zahlreich und stammen oft aus der Musik selbst, aber auch außerhalb davon. Dies rührt von meinen Lesegewohnheiten her. Ich lese eine große Anzahl historischer Werke sowie ernsthafte literarische Werke. In der populären Literatur lese ich nur Geschichten des Übernatürlichen. Sie provozieren oft meine Gedanken und helfen mir gelegentlich, musikalische Strukturen auszuwählen. Aus Liebe zu Borges habe ich Stücke basierend auf seinen Geschichten komponiert. Ich halte mich auch über aktuelle Ereignisse auf dem Laufenden und drücke manchmal meine Ansichten durch Musik aus, wie in "Prisoner's Womb". In den letzten Jahren habe ich aufgrund meiner akademischen Forschung zur musikalischen Zeitlichkeit zunehmend Musik basierend auf der menschlichen Wahrnehmung und dem Bewusstsein von Zeit komponiert und dabei mehr Aufmerksamkeit auf historischen Kontext und Identität der Menschen gelegt.
6. In welcher Weise hat UE Ihre Arbeit als Komponist:in beeinflusst?
Universal Edition und Publishing-Tool scodo helfen mir, meine Werke weltweit auf eine bequemere und einfachere Weise zu veröffentlichen.
7. Wer ist Ihr:e Lieblingskomponist:in bzw. was ist Ihr Lieblingsstück und warum?
Es ist schwer, das eindeutig zu sagen, aber insgesamt werde ich stark von den Meistern Mittel- und Osteuropas beeinflusst, wie Lutoslawski, Szymanowski, Bacewicz, Janacek, Weinberg, Schreker und Schnittke. Allerdings ziehe ich Inspiration aus verschiedenen Quellen. Die Werke von Rautavaara, Revueltas, Ohana, Roslavets, Silvestrov und Toru Takemitsu inspirieren mich ebenfalls oft. Ich finde die Schönheit der Struktur in den Werken von Chopin, Brahms und Messiaen; die Anziehungskraft nichtlinearer Zeit in der Musik von Bruckner, Mahler und Berg. Außerdem faszinieren mich Bach, Rameau und frühe Barockkomponisten, insbesondere Biber, Froberger, Schütz und Monteverdi. Derzeit achte ich besonders auf Komponist:innen wie Alexander Lokshin, Pawel Mykietyn, Helena Tulve, Beate Furrer und Tiensuu.
8. Welchen Rat haben Sie für angehende Komponist:innen?
Studieren Sie die Werke der Meister:innen der Geschichte intensiver und konzentrieren Sie sich nicht zu sehr auf die Gegenwart. Schätzen Sie Kunst mit einem offenen Geist und schaffen Sie Musik mit Strenge. Ziel ist es, hochwertige Musik zu schreiben, anstatt immer nur Musik zu produzieren, die lediglich unverwechselbar ist.
9. Was ist Ihrer Meinung nach derzeit die größte Herausforderung für Komponist:innen?
Von der Geschichte der Kunstmusik verlassen und gleichzeitig vom Präsenzismus überwältigt zu werden.
10. Was sollte man Ihrer Meinung nach wissen, bevor man den Berufsweg "Komponist:in" einschlägt?
Musik ist nicht allmächtig. Aber in ihr liegt eine Welt, die alle Phänomene einschließt.
11. Was sollte Ihrer Meinung nach jedes Publikum wissen oder verstehen?
12. Was ist der größte Popsong aller Zeiten?
13. Was wäre Ihr Traum-Ort bzw. Ihr:e Traum-Interpret:in für eine Uraufführung?
14. Was bevorzugen Sie – das Arbeiten an Klavier- oder Orchesterkompositionen?
15. Komponieren Sie lieber auf Papier oder digital?
Als ich noch ein schwaches Sehvermögen hatte, genoss ich es, von Hand zu komponieren, da der Akt des Schreibens selbst eine kognitive Bedeutung hatte und das leere Notenpapier einen imaginativen Raum für die Klangkonstruktion schuf.
Nachdem ich mein Sehvermögen vollständig verloren hatte, wurde das Komponieren mit Musiknotationssoftware meine einzige Option. Als die Unterstützung durch Bildschirmleseprogramme noch nicht vollständig entwickelt war, diktierte ich jedes Detail der Partitur meiner Familie, die mir half, sie mit Musiknotationssoftware zu notieren. Jetzt bin ich in der Lage, die Musik selbst zu transkribieren. Allerdings kann keine unterstützende Technologie unabhängig vorbereitete Partituren für blinde Menschen erstellen. Daher helfen mir meine Schüler:innen, die Partituren zu verfeinern.
16. Kaffee oder Tee?
Ich trinke hauptsächlich Kaffee, gelegentlich auch Tee.
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