Wolfgang Rihm
*13. März 1952
†27. Juli 2024
Werke von Wolfgang Rihm
Biographie
Geboren am 13. März 1952 in Karlsruhe, wo er bis zuletzt seinen Wohnsitz hatte, war Wolfgang Rihm Komponist, Professor für Komposition und Autor zahlreicher Bücher – die teilweise Sammlungen seiner Schriften repräsentieren, teilweise Interviewbände mit ihm als Gesprächspartner konstituieren. Er war auch Mitglied zahlreicher Gremien in Deutschland, wo immer es gilt, die Interessen der Musikschaffenden zu vertreten.
Keine Zweifel: Wolfgang Rihm ist und bleibt ein Phänomen, eine überlebensgroße Figur. Sein Wissen auf seinem eigentlichen Betätigungsfeld, der Musik, war allumfassend, aber das gleiche gilt auch für die Künste, die Literatur, die Philosophie – die alle für sein Komponieren als Inspirationsquelle dienten.
Die Welt, die er mit seinen über 400 Kompositionen geschaffen hat, ist ein Universum. Als solches kann es nicht eingestuft, mit einem Label abgehakt werden. Um den Titel eines englischen Filmes umgewandelt zu entlehnen: er war 'a composer for all seasons'. Rihm hat so genannte neue Musik geschrieben – und die Titel seiner Kompositionen sind symbolhaft für die Musikgeschichte der letzten Jahrzente geworden, ein Gemeingut, dessen sich Orchester, Ensembles und Kammergruppen regelmäßig und selbstverständlich bedienen. (Etwa: Jagden und Formen, der Chiffre-Zyklus, Pol - Kolchis - Nucleus) Gleiche Bedeutung steht den Werken zu, die sich auf die Musikgeschichte berufen – etwa Oratorien in der Bach-Nachfolge (Deus Passus), Orchesterwerke, die sich an Brahms orientieren (Ernster Gesang, Nähe fern 1-4)oder Kammermusik nach Robert Schumann (Fremde Szenen). Schon als 25-Jähriger hat Rihm eine Kammeroper komponiert, die seit über 30 Jahren im Repertoire verankert ist (Jakob Lenz). Weitere Musiktheaterwerke verschiedenster Stile bereichern die Programme der Opernhäuser (Die Eroberung von Mexico, Die Hamletmaschine, Das Gehege, Dionysos).
Wolfgang Rihm war einer der wichtigsten Liederkomponisten unserer Zeit; seine Streichquartette werden von den verschiedensten Gruppen in zyklischen Konzertreihen präsentiert. Er war ein Komponist, der sich immer in Frage stellte. Jedes neue Werk war eine Antwort auf das Vorausgegangene; jedes neue Werk warf Fragen auf, die er im nächsten Stück zu beantworten suchte. So entstanden Werkreihen, ganze Familien von Kompositionen. Alles war ständig im Wachsen, es wurde ununterbrochen gearbeitet, ergänzt, in neue Verbindungen gebracht.
Rihms Tätigkeit als Lehrer (mit Vykintas Baltakas und Jörg Widmann unter seinen Studenten) wäre ein anderes Kapitel. Und wenn man bedenkt, welch großartiger Zeichner er war und wenn man das Gedicht liest, das er über und für sein Trompetenkonzert Marsyas geschrieben hat, muss man zugeben, dass Wolfgang Rihm in der Tat eine überlebensgroße Figur war.
Wolfgang Rihm zählt zu den meistgespielten zeitgenössischen Komponisten Europas – der Ausnahmekomponist starb in der Nacht zum 27. Juli im Alter von 72 Jahren.
1952 – geboren am 13. März in Karlsruhe
1963 – erste Kompositionsversuche
1968-1972 – Kompositionsstudium bei Eugen Werner Velte an der Staatlichen Hochschule für Musik in Karlsruhe noch während seiner Studienzeit am Humanistischen Gymnasium;
weitere Kompositionsstudien bei Wolfgang Fortner und Humphrey Searle
1970 – erstmals bei den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik
1972 – Abitur am Gymnasium und Staatsexamen in Komposition und Musiktheorie an der Musikhochschule
1972/1973 – Kompositionsstudium bei Karlheinz Stockhausen in Köln
1973-1976 – Kompositionsstudium bei Klaus Huber und musikwissenschaftliche Studien bei Hans Heinrich Eggebrecht in Freiburg im Breisgau
1973-1978 – gelegentliche Lehrtätigkeit in Karlsruhe
1976 – Faust und Yorick - Kammeroper Nr. 1 (Jean Tardieu/Frithjof Haas)
1977/1978 – Jakob Lenz - Kammeroper Nr. 2 (Georg Büchner/Michael Fröhling)
1978 – Berliner Kunstpreis–Stipendium;
Kranichsteiner Musikpreis Darmstadt;
Reinhold Schneider–Preis der Stadt Freiburg
seit 1978 – Dozent bei den Darmstädter Ferienkursen
1979 – Stipendium der Stadt Hamburg
1979/1980 – Stipendium an der deutschen Künstlerakademie, Villa Massimo in Rom (Rom–Preis)
1981 – Beethoven–Preis der Stadt Bonn;
Lehrtätigkeit in München
seit 1982 – Präsidiumsmitglied des Deutschen Komponisten–Verbandes
1983 – Stipendium der Cité des Arts in Paris
1983/1986 – Die Hamletmaschine (Heiner Müller/Rihm)
1984/1985 – Fellow des Wissenschaftskollegs Berlin;
Mitherausgeber der Musikzeitschrift „Melos“ (bis 1989);
Präsidiumsmitglied des Deutschen Musikrates
1984-1989 – musikalischer Berater der Deutschen Oper Berlin
seit 1985 – Professor für Komposition an der Karlsruher Musikhochschule als Nachfolger seines Lehrers Velte;
Kuratoriumsmitglied der Heinrich–Strobel–Stiftung des SWF Baden–Baden
1986 – Rolf-Liebermann-Preis für die Oper Hamletmaschine
1986/1987 – Oedipus (Textzusammenstellung von Rihm nach Sophokles, Hölderlin, Nietzsche, H. Müller)
1987/1991 – Die Eroberung von Mexico (Antonin Artaud/Rihm)
seit 1989 – Im Aufsichtsrat der GEMA
1989 – Bundesverdienstkreuz
1990-1993 – musikalischer Berater des Zentrums für Kunst und Medientechnologie in Karlsruhe (ZKM)
1991 – Festredner bei der Eröffnung der Salzburger Festspiele;
Mitglied der Akademien der Künste München, Berlin und Mannheim
1994 – Séraphin - Musiktheater ohne Text, UA in Frankfurt am Main;
Februar: Großes Rihm–Portrait (35 Werke) im Rahmen von Éclat – Tage für Neue Musik, Stuttgart
1996 – szenische EA von Séraphin in Stuttgart
1997 – Erhält den Prix de Composition Musical de la Fondation Prince Pierre de Monaco;
Composer-in-residence bei den Internationalen Musikfestwochen Luzern
1998 – Erhält den Jacob Burckhardt–Preis der Johann Wolfgang von Goethe–Stiftung;
Ehrendoktorat der Freien Universität Berlin
2000 – Composer in residence bei den Salzburger Festspielen und beim Festival Musica in Straßburg;
Erhält den Bach-Preis der Stadt Hamburg
2001 – Royal Philharmonic Society Award für Jagden und Formen
Das französische Ministerium für auswärtige Angelegenheiten ernennt Wolfgang Rihm zum 'Officier dans l’Ordre des Arts et des Lettres'.
2001/2002 – Rihm wird anlässlich seines 50. Geburtstages europaweit gefeiert (Festivals, Uraufführungen)
2003 – Der Ernst von Siemes Musikpreis wird Rihm zugesprochen. Der Preis wurde ihm am 22. Mai 2003 im Münchner Cuvilléstheater überreicht;
7. November: Eintrag ins Goldene Buch der Stadt Karlsruhe
2004 – 8. Mai: Rihm wird die Verdienstmedaille des Landes Baden–Württemberg verliehen
2006 – 27. Oktober: Uraufführung der Oper Das Gehege (nach Botho Strauß‘ Schauspiel „Schlusschor“) in der Bayerischen Staatsoper in München
2009 – 2. Mai: Uraufführung des Monodramas Proserpina im Rokokotheater Schwetzingen
2010 – 27. Juli: Uraufführung der Oper Dionysos (eine Opernphantasie nach Texten von Friedrich Nietzsche, Libretto vom Komponisten) im Rahmen der Salzburger Festspiele
2010 – 30. September: Rihm wird der Goldene Löwe 2010 des Bereichs Musik der Biennale di Venezia für sein Lebenswerk zugesprochen
2010 – 18. November: Uraufführung von Lichtes Spiel für Violine und kleines Orchester in der Avery Fisher Hall New York
2011 – Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland zum Tag der Deutschen Einheit
2011 – 15. Jänner: Uraufführung von Will Sound More für Ensemble an der Alten Oper in Frankfurt am Main
2011 – 3. April: Uraufführung von Dyade für Violine und Kontrabass in der Avery Fisher Hall, New York
2011 – 22. Juni: Uraufführung von Nähe fern 1 für Orchester am KKL Luzern
2011 – 9. Juli: Uraufführung von Eine Strasse, Lucile für Sopran und Orchester in Karlsruhe
2011 – 19. Oktober: Uraufführung von Nähe fern 2 für Orchester am KKL Luzern
2011 – 25. Oktober: Uraufführung von Will Sound More Again für Ensemble
2011 – 29. Oktober: Uraufführung von Der Maler träumt für Bariton und Ensemble
2011 – erhält das Große Bundesverdienstkreuz
2012 – 29. Februar: Uraufführung von Nähe fern 3 für Orchester
2012 – 13. Juni: Uraufführung von Nähe fern 4 für Orchester
2012 – 20. August: Uraufführung von „Dämmrung senkte sich von oben“ für Bariton und Orchester am KKL Luzern
2012 – wird in den Orden Pour le Mérite für Wissenschaften und Künste aufgenommen
2013 – 10. Februar: Uraufführung von Epilog für Streichquintett am Eclat Festival Stuttgart
2013 – 5. April: Eröffnung des Wolfgang-Rihm-Forums an der Hochschule für Musik Karlsruhe
2013 – 18 April: Ernennung zum Commandeur dans l’ordre des Arts et des Lettres
2013 – 27. April: Uraufführung von Stille Feste für Chor und Orchester in Stuttgart
2013 – 23. Juni: Uraufführung von A Tribute für Orchester am Aldeburgh Festival
2013 – 20. Oktober: Uraufführung von IN-SCHRIFT 2 für Orchester
2013 – 20. November: Uraufführung von Verwandlung 5 für Orchester
2013/2014 – Capell-Compositeur der Sächsischen Staatskapelle Dresden
2014 – 10. Mai: Uraufführung von Transitus am Teatro alla Scala unter Riccardo Chailly
2014 – 4. Juni: Uraufführung von Verwandlung 6 an der Essener Philharmonie
2014 – 19. August: Uraufführung des Hornkonzerts am Lucerne Festival (Stefan Dohr, Hr)
2014 – 25. August: Uraufführung des 2. Klavierkonzerts bei den Salzburger Festspielen (Tzimon Barto, Klav)
2014 – 17. September: Uraufführung des Trio Concertos am Musikfest Berlin (Trio Jean Paul; WDR SO Köln, Dir. Jukka-Pekka Saraste)
2014 – 6. Oktober: erhält das Große Bundesverdienstkreuz mit Stern
2014 – 6. November: erhält den Robert Schumann Preis für Dichtung und Musik 2014
2015 – 9. Jänner: Gedicht des Malers (Poème du Peintre) wird von Renaud Capuçon und den Wiener Symphonikern unter Philippe Jordan uraufgeführt
2015 – 23. Juli: erhält das Ehrenzeichen des Landes Salzburg
2015 – 15. Oktober: Uraufführung des Duo Concertos an der Carnegie Hall (Mira Wang, Vl; Jan Vogler, Vc)
2016 – März: Mitglied der Académie royale des sciences, des lettres et des beaux-arts de Belgique
Sommer 2016 – künstlerische Gesamtleitung der Lucerne Festival Academy; resident composer beim Fast Forward Festival
2017 – 11. Jänner: Uraufführung von Reminiszenz | Triptychon und Spruch in memoriam Hans Henny Jahnn bei der Eröffnung der Elbphilharmonie
2017 – erhält den Preis der Europäischen Kirchenmusik 2017
2017 – 30. März: Uraufführung von Requiem-Strophen im Herkulessaal in München
2022 – 29. Juli: Markus Hinterhäuser übergibt Wolfgang Rihm in Vertretung der Salzburger Festspiele die Festspielnadel mit Rubin
2024 - Oberbürgermeister der Stadt Karlsruhe Dr. Frank Mentrup verleiht Wolfgang Rihm die Ehrendmedaille der Stadt Karlsruhe.
27. Juli: Wolfgang Rihm stirbt in Ettlingen bei Karlsruhe
Über die Musik
Wolfgang Rihm hätte Dichter oder Maler werden können. Das Mitteilungsbedürfnis hatte er schon früh, auch das Vermögen abstrakten Denkens. Er ist Komponist geworden: er teilt sich durch Töne mit.
Rihm ist eine überlebensgroße Erscheinung, sowohl was sein enzyklopädisches Wissen anbelangt, als auch sein Schaffen, das ebenfalls Enzyklopädisches, Allumfassendes an sich hat. Das gleiche gilt für sein Wirken, als Lehrer (er ist Professor für Komposition an der Musikhochschule in Karlsruhe), als Schreibender (mehrere Bände seiner Schriften, darunter auch Interviews, sind erschienen), als Vortragender (er ist ein charismatischer Redner) und Vertreter seiner Zunft in öffentlichen Gremien, darunter die GEMA.
Mitteilen: das heißt, etwas ausdrücken zu wollen. Der ungeheure Ausdruckswille seiner Musik, ihre ungemein starke Ausdruckskraft schockierte (beeindruckte aber auch) die Anwesenden der Uraufführung von Sub-Kontur, einem fast halbstündigen Orchesterwerk, 1976 in Donaueschingen. Rihm war 24 Jahre alt. Er musste die ärgsten Beschimpfungen über sich ergehen lassen, seine Art von Ausdrucksmusik war in den siebziger Jahren einfach nicht comme il faut.
Über dreißig Jahre später ist das schon Musikgeschichte. Rihm ist sich und seinem Ausdruckswillen treu geblieben, die Kritiken von damals sind stummes, gelbliches Papier geworden. Rihm ist also sich selbst treu geblieben. Das heißt, dass sich seine Musik jedem Versuch, sie einzuordnen, widersetzt. Mit jedem Werk überrascht er seine Hörer, oft auch sich selbst. Grundsätzlich gilt: jedes abgeschlossene Stück wirft Fragen auf, die er versucht, im neu in Angriff genommenen Werk zu beantworten. Seine veröffentlichten „Antworten“ zählen inzwischen etwa 350.
Wie findet man sich in diesem Labyrinth zurecht? Das Werkverzeichnis versucht, Hilfe zu leisten, indem Werke nach Gattungen, Besetzungsgröße und Inspirationsquellen sowie in alphabetischer Reihenfolge aufgelistet werden.
Unter den Gattungen kommt man zunächst auf die Bühnenwerke. Ein Jahr nach Sub-Kontur entstand, im Auftrag der Hamburgischen Staatsoper, Jakob Lenz, wohl die meistgespielte Kammeroper eines lebenden Komponisten. Wieder einmal: großartige Ausdrucksmusik, mit idealen Rollen für einen Bariton, einen Bass und einen Tenor. Mit elf Instrumenten ist die Besetzung für jede Werkstattbühne geeignet, aber Jakob Lenz wird auch in großen Sälen angesetzt.
Die Eroberung von Mexico (1987–1991), vom Komponisten als Musiktheater bezeichnet, scheint ebenfalls regelmäßig in den Spielplänen von hauptsächlich deutschen Opernhäusern auf. Séraphin mit dem Untertitel Versuch eines Theaters – Instrumente/Stimmen … nach Antonin Artaud, ist eine willkommene Herausforderung für experimentierfreudige Regisseure: ohne Text heißt ohne Handlung. Mit diesem Material kann einfach alles gemacht werden: eine Geschichte entwickeln, Akrobaten auf der Bühne agieren lassen, Videos projizieren … In letzter Zeit hat Rihm wieder zunehmend für die Bühne gearbeitet: im Monodram Das Gehege, Eine nächtliche Szene (2004/2005) nach Botho Strauß, Penthesilea Monolog (2005) nach Heinrich von Kleist (beide Einakter, zusammen mit der Szenarie Aria/Ariadne (2001), eine Vertonung der Klage der Ariadne aus Nietzsches Dionysos-Dithyramben sind unter dem Titel Drei Frauen als abendfüllendes Bühnenwerk, mit neu dazu komponierten Zwischenspielen, 2009 in Basel uraufgeführt worden). Goethes Proserpina entstand als Monodrama für die Schwetzinger Festspiele 2009. Nietzsches Dionysos-Dithyramben dienten erneut als Vorlage für Rihms jüngstes Musiktheater, Dionysos (2009–2010), das 2010 bei den Salzburger Festspielen mit großem Erfolg zum ersten Mal gezeigt wurde. Dieses Werk wird vom Komponisten als Opernphantasie bezeichnet.
Wenn man sich die Werkliste näher anschaut, erkennt man leicht, dass zahlreiche Kompositionen Gruppen oder Reihen bilden. So hat Rihm zum Beispiel fünf Werke unter dem Titel Abgesangszene (1979–1981) komponiert; der Chiffre-Zyklus (1982–1988) besteht aus acht mit Ziffern versehenen Werken sowie aus Bild (eine Chiffre) (1984), und einem Nachgedanken aus dem Jahr 2004: Nach-Schrift – eine Chiffre. Über die Linie heißen sieben Werke für Soloinstrumente mit oder ohne Orchester sowie kleine Besetzungen. Bis jetzt gibt es vier Orchesterkompositionen unter dem Titel Verwandlung (zwischen 2002 und 2008 entstanden), vielleicht wird die Reihe fortgesetzt. Den fünf Stücken, – Versuchen – die dem Gedenken des großen Freundes Luigi Nono gewidmet sind, kommt im Oeuvre eine zentrale Bedeutung zu. Allerdings sind sie in der Liste schwer zu finden: der Hinweis auf Nono scheint nur in den Untertiteln auf, etwa: La lugubre gondola / Das Eismeer. Musik in memoriam Luigi Nono (5. Versuch) aus den Jahren 1990–1992.
Der aufmerksame Leser des Verzeichnisses wird Hinweise auf die Arbeitsweise des Komponisten finden, und zwar in Klammern nach den Titeln. Ein gutes Beispiel ist Jagden und Formen für Orchester, dessen erste beiden Zustände (1995–1999 bzw. 1995–2000) zurückgezogen wurden, zwei weitere Fassungen jedoch sind gültig: die von 1995–2001 und der Zustand 2008, der zwei Jahre lang für den Auftraggeber, das Ensemble Modern, reserviert wurde.
Es gibt ein weiteres Kriterium, nach dem Rihms Kompositionen zugeordnet werden können: dem Stil, der musikalischen Sprache nach. Seine Musik ist ja avant-garde und (nur des Wortspiels willen) arrière-garde. Sie ist auf dem Programm von Festivals für Neue Musik genauso zu Hause wie in Abonnement-Konzerten oder bei kirchlichen Feiern. Man kann vielleicht grundsätzlich sagen, dass die Werke für Ensemble (geschrieben für das Ensemble Intercontemporain, das Ensemble Modern, die Musikfabrik, das ensemble recherche, usw.) als „Neue Musik“ zu bezeichnen sind. Sie sind teilweise Gemeingut geworden und werden mit einer Selbstverständlichkeit programmiert, wie etwa die Mahler-Symphonien durch Orchester, zusätzlich zu den schon genannten Chiffre-Stücken (einzeln oder als Zyklus) und Jagden und Formen auch abgewandt 1 und 2 (1989 bzw.1990), Pol – Kolchis – Nucleus (1996), Bild (eine Chiffre) (1984) und andere. Merkwürdigerweise sind manche großartigen Ensemblestücke fast in Vergessenheit geraten, wie Cuts and Dissolves, jene Orchesterskizzen, die der 24-Jährige als eines der allererstes Auftragswerke des Ensemble Intercontemporain komponierte und nach vielen Jahren (2004) bei Ars Musica in Brüssel für sich selbst wieder entdeckte.
Unter den groß besetzen Orchesterwerken gibt es zahlreiche, der „Neuen Musik“ zuzurechnende Kompositionen, darunter auch Zyklen. Einige Titel seien hier erwähnt: Klangbeschreibung 1, 2, 3 (1982–1987), Tutuguri I–IV (1981–1982) und Unbenannt I-IV (1986–2003).
Als Rihm beauftragt wurde, vier kurze Orchesterstücke zu komponieren, die zwischen einzelne Sätze des Brahms-Requiems zu integrieren waren, gelang es ihm, ohne auf Kompromisse einzugehen, seine Musik in die Brahms’sche zu integrieren: Das Lesen der Schrift (2001–2002). Ähnliches gilt für ein anderes Brahms-bezogenes Werk: Ernster Gesang (1996), das eine seiner meistgespielten Kompositionen wurde. Was ist aber die Erklärung für die Wagnerschen Harmonien, die Wagnersche Welt von Drei späte Gedichte von Heiner Müller (1998–1999)? Oder für die manchmal an Schubert gemahnende Gesanglichkeit von Deutsches Stück mit Hamlet (1997–1998)?
Um die Fragen fort zu setzen: wie sind die bisher entstandenen fünf Werke unter dem Titel Vers une symphonie fleuve (1992–2009) zu bezeichnen? Neue Musik? Musik für Abonnementkonzerte? Für manche sicherlich zu traditionell, für andere zu modern. Musik, die man immer wieder hören, sich in ihre Welt einleben muss (dies gilt selbstverständlich auch für alle anderen aufgelisteten und nicht aufgelisteten Kompositionen).
Vollständig kann diese Skizze sicherlich nie werden, eines muss aber unbedingt festgestellt werden: Wolfgang Rihm ist einer der wichtigsten Liedkomponisten unserer Zeit. Die Palette der vertonten Dichter lässt die Belesenheit des Komponisten erahnen. Beispiele: Alexanderlieder (1975–1976) nach Ernst Herbeck, Wölfli-Liederbuch (1980–1981), Das Rot (1990) nach Karoline von Günderrode, Ende der Handschrift (1999) nach Heiner Müller, Rilke: Vier Gedichte (2000), Lavant-Gesänge (2000–2001), Goethe-Lieder (2004–2007).