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Beat Furrer
Furrer: Nuun für 2 Klaviere und Orchester, für 2 Klaviere und Orchester
UE30902
Ausgabeinfo:
Aufführungsmaterial leihweise;
Partitur in Handschrift
Ausgabeart: Partitur
Format: 297 x 420 mm
ISBN: 9783702468385
Seiten: 110
ISMN: 979-0-008-08186-6
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Beschreibung
Wie die mythische Gestalt 'Nu'(*) die Zeit anzuhalten vermochte, so wird in nuun ein mit scheinbar unaufhaltsamem Impetus sich abspulender Klang allmählich zum Stehen gebracht, rein mechanische Energie in lebendigere umgewandelt. In Beat Furrers Stück für zwei Klaviere und Orchester geht es um das Prinzip der Transformation – und zwar auf rhythmischer, harmonischer und klanglicher Ebene – als durchgehender Prozeß vom Anfang bis zum Ende. Den dafür nötigen langen Atem hat nuun in einem bei Furrer kaum dagewesenen Ausmaß. Das Stück spannt einen großen Bogen vom überaus dichten Beginn bis zum einsamen, letzten Anschlagen des Klaviers, das in der Stille verklingt. Aus der anfänglichen Komplexität werden nach und nach Elemente herausgefiltert, Ebenen fallen weg, wodurch Strukturen hörbar werden, die zuvor als Teile des Gesamtklangs in repetitive Muster eingebettet waren. Die Intention des Komponisten ist es, "Bewegungsenergien und Kräfte erfahrbar zu machen, die das Material, aus dem die Musik gebaut ist, überschreiten". Beat Furrer vergleicht diese Klangabsicht des Stückes mit den "Farbabstufungen, die man beim längeren Betrachten eines monochromen Bildes erkennt." Es bedarf nicht der Bezeichnung schattenhaft auf einer der letzten Partiturseiten, um die Parallele zu den von Feldman bevorzugten Analogien zu sehen. Die vielschattige Klangwelt Beat Furrers hat auch in ihrer ganz anderen Gestalthaftigkeit Verbindungen zur sanften Kunst der Allmählichkeit bei Morton Feldman. Die Verwandschaft reicht bis zur Notation: nuun beginnt für alle Instrumente mit einer winzigen Pause – eine Feinheit von feldman’scher Metaphysik.
Der Anfang von nuun wird von eng verzahnten Tonwiederholungen geprägt. Die beiden Klaviere spielen in jeweils unregelmäßiger Folge immer denselben Griff, den Ton H in mehreren Oktaven, und zwar so, daß sich im Miteinander der beiden Stimmen eine durchgehende Repetitionsfläche ergibt. Aus dieser werden nach und nach einzelne Töne herausgenommen, bis die rhythmische Mechanik ins Stocken gerät und schließlich bis zum Ende des Stücks zum Stillstand gebracht wird. Auf diesem Wege der Filterung, Entmechanisierung, gerät der Rhythmus in jenen schmalen Bereich, der als sprachähnliche Lebendigkeit wahrgenommen wird: das Parlando, das die Folie regelmäßiger Impulsfolgen allmählich belebt erscheinen läßt. Während zunächst durch die Parallelführung mehrerer klarer rhythmischer Schichten ein komplexer, gefestigter Klang erzeugt wird, ordnen sich in der zweiten Hälfte alle Instrumente in den immer sprachähnlicher werdenden gemeinsamen Rhythmus ein; aus dem mechanischen Nebeneinander wird ein heterogenes Miteinander.
Nach dem gleichen Prinzip wird im Verlauf des Werkes die Harmonik transformiert: Ähnlich den Zeitproportionen werden auch die Tonhöhenverhältnisse Schritt für Schritt verändert. Ausgangspunkt der Tonhöhenorganisation in nuun war für Beat Furrer die Vorstellung von Bewegungsabläufen: Imaginäre Glissandi führen die Töne eines Anfangsklanges in verschiedenen Geschwindigkeiten zu einem Zielakkord. Mit mehreren ‘Zwischenstationen’ dieser Glissandi entstehen als Grundlage des Tonvorrats aufsteigende Akkordketten, in denen sich die Proportionen mehr und mehr verschieben. Diese im kompositionstechnischen Hintergrund des Werkes stehenden Akkordfolgen kommen zwar kaum in reiner Form vor, sondern erscheinen angereichert mit Quarten, Quinten und Oktaven, in vielfältig zerlegten Erscheinungsformen zu raschen Linien geformt oder bis zum Rudiment gefiltert, und doch durchdringen sie das ganze Werk als hörbare Tendenz nach oben. Die imaginären Bewegungsabläufe, die dem Material zugrundeliegen, bewirken neben aller gestischen Einheitlichkeit einen harmonischen Prozeß, der zusammen mit der Metamorphose der Zeitstruktur den langen Atem von nuun entstehen läßt.
Auch klanglich schreibt die Partitur Verwandlung vor: Das Spektrum der Streichinstrumente führt in minutiös festgelegten Abstufungen immer wieder vom volltönenden Flautato bis zum obertonreichen Ponticello beim Streichen dicht am Steg. Die Klaviere geraten aus dem mechanischen Martellato ins Geräuschhafte und erreichen erst gegen Ende in ruhigen Aufwärtslinien einen kantablen Klang. Am Anfang werden die Instrumentengruppen noch registerartig überhöht, spielen jeweils en bloc, mit auf die Spitze getriebener Klangsättigung. Im zweiten Teil wird alles mobiler, geräuschhafter. Etwa beginnt im Horn ein pulsierendes Luftgeräusch, darauf erklingt es in der Trompete, greift über auf die Schlaginstrumente, führt zu einer Wellenbewegung des Wassergongs und eskaliert schließlich im letzten Ausbruch des Orchesterklangs, in den letzten frenetischen Klavierrepetitionen, denen schließlich die Resonanz entzogen wird. Klangtransformationen, deren penible Notation an das Varèsesche Problem der nahtlosen Übergänge zwischen Klängen denken läßt, zeichnen die Spannungskurve von nuun mit.
In all diesen langangelegten Prozessen, ineinandergreifenden Transformationen und Überblendungen gibt es zahlreiche Brüche. nuun ist so detailreich, elaboriert und so wenig glatt wie auch die zuvor geschriebenen Partituren Beat Furrers. Viel öfter sogar als in den früheren Stücken gibt es Eskalationen, Unterbrechungen, Schnitte. Viel größer als in den früheren Stücken ist aber auch die Beharrlichkeit, mit der nuun sich durch kein Detail, durch keine Überraschung von seinem langen Atem abbringen läßt. In aller Heterogenität tritt Klarheit hervor.
© Bernhard Günther 1996 (*) vgl. Robert Graves: Die weiße Göttin
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Aufführungsmaterial leihweise;
Partitur in Handschrift
Ausgabeart: Partitur
Format: 297 x 420 mm
ISBN: 9783702468385
Seiten: 110
ISMN: 979-0-008-08186-6