Pierre Boulez
sur Incises
Dauer: 40'
Widmung: Für Paul Sacher zum 90. Geburtstag
Instrumentierungsdetails:
1. Klavier
2. Klavier
3. Klavier
1. Harfe
2. Harfe
3. Harfe
1. Percussion (Vibrafon, Steel Drums, Crotales)
2. Percussion (Vibrafon, Glockenspiel, Timbales)
3. Percussion (Marimba, Röhrenglocken, Crotales)
Boulez - sur Incises für 3 Klaviere, 3 Harfen und 3 Schlagzeugspieler
Gedruckt/Digital
Übersetzung, Abdrucke und mehr
Pierre Boulez
Boulez: sur IncisesInstrumentierung: für 3 Klaviere, 3 Harfen und 3 Schlagzeugspieler
Ausgabeart: Dirigierpartitur
Instrumentierung: für 3 Klaviere, 3 Harfen und Schlagzeugspieler
Ausgabeart: Studienpartitur
Musterseiten
Hörbeispiel
Werkeinführung
Aus einem Gespräch mit Pierre Boulez *
Ich entnehme aus dem, was Sie da sagen, daß Sie sich auch in den letzten Jahren intensiv mit dem Klavier beschäftigt haben. Und in der Tat nimmt der Klavierpart in Répons ja eine sehr wichtige Rolle ein. Gleichviel könnte man denken, daß der Komponist Pierre Boulez sich seit der 3. Klaviersonate und dem 2. Buch der Structures aus dem Jahre 1961 nicht mehr mit dem Klavier beschäftigt hätte. Jedenfalls ist das erste reine Klavierstück Incises ein vergleichsweise kurzes, sehr brillantes, äußerst motorisches Klavierstück. Daraus ist nun sur Incises entstanden, ein Stück, das den reinen Klavierklang sprengt.
Boulez: Ja, es ist ein Ensemble für drei Klaviere, das sind sozusagen die Hauptinstrumente, drei Harfen und drei Schlagzeuge mit bestimmter Tonhöhe, also Pauken, Steeldrums, Glockenspiel usw. Das Klavierstück Incises habe ich für den Klavierwettbewerb Umberto Micheli geschrieben, für den sich Maurizio Pollini sehr einsetzt. Ich hatte zunächst im Sinn, aus diesem Stück ein längeres für Pollini und eine Gruppe von Instrumentalisten, eine Art Klavierkonzert zu machen, das allerdings nicht mit der herkömmlichen Konzertform zu tun haben sollte. Die konzertante Literatur als solche sagt mir einfach nichts mehr. Und so ist ein Stück für drei Klaviere entstanden. Ich bin zunächst davon ausgegangen, daß es schon genügend interessante Literatur für zwei Klaviere und Ensembles, besonders in der Moderne, gibt - denken Sie etwa an Bartóks Sonate für zwei Klaviere und Schlagzeug -, und ich dachte, wenn ich zwei Klaviere benutze, wird man sofort an diese Welt erinnert. Ich habe auch über die Möglichkeit mit vier Klavieren nachgedacht, denn das ist eine sehr reizvolle Konstellation mit sehr guter Balance, aber da gibt es auch schon das Vorbild Stravinsky, und ich wollte nicht durch diese sehr charakteristische Instrumentation sozusagen Stravinsky zitieren. So bin ich schließlich bei drei Klavieren gelandet - wir haben ja übrigens auch drei Pianisten in unserem Ensemble. Weiters dachte ich daran, zu diesen drei Pianisten noch Blechbläser zu nehmen. Aber es gibt schon dieses Stück für Blechbläser, Harfe und Klavier von Hindemith, das war’s also auch nicht, und außerdem wollte ich nicht alle Familien von Instrumenten wie etwa in Éclat. So bin ich auf die drei Schlagzeuge gekommen, zumal wir auch drei Schlagzeuger im Ensemble haben. Und erst dann kam mir noch die Idee mit den drei Harfen. Hinterher dachte ich zwar, das könnte in dieser Konstellation eine Idee von Elliott Carter sein, denn es gäbe die theoretische Anordnung: drei Schlagzeuger, drei Harfen, drei Klaviere, oder Klavier eins, Harfe eins, Schlagzeug eins, und alle weiteren nur denkbaren Korrespondenzen. Aber wie gesagt, diese Carter’sche Dimension ist mir erst hinterher aufgegangen.
Ich hatte also diese Ausgangsposition drei Klaviere, drei Harfen, drei Schlagzeuger, also drei mal drei, und das ist neun. Und das Stück wurde geschrieben für den 90. Geburtstag von Paul Sacher. Aber das, glauben Sie mir (lacht), ist wirklich nur Zufall. Ich hatte die Neun nicht absichtlich genommen.
Meine ursprüngliche Intention war, dem ersten Klavier die Hauptpartie zuzuweisen. Als ich dann anfing zu komponieren, merkte ich, daß diese Disposition bei drei Klavieren überhaupt keinen Sinn mehr macht. Konsequenterweise hätte ich dann ja auch eine erste Harfe nehmen müssen und ein erstes Schlagzeug, und das war einfach nicht gegeben. Deswegen bewegen sich jetzt drei Klaviere gewissermaßen auf derselben Ebene. Dabei ist unversehens ein ziemlich langes Stück entstanden.
Incises aber ist ja doch ein sehr kurzes Stück, das einen vermöge dieser Kürze, dieser sehr konzisen Form, fast überrumpelt. Wie unterscheidet sich sur Incises von Incises, da ja doch der Bezug ganz eindeutig gegeben ist?
Boulez: Sie werden sich erinnern, in Incises gibt es zunächst diese sehr freie, sehr flexible Einleitung, und dann kommt dieser sehr, sehr schnelle Teil, der aber immer wieder blitzartig unterbrochen wird. Aber der Charakter der rasenden Bewegung ist beibehalten. In sur Incises habe ich nun diese Einleitung zeitlich sehr ausgedehnt, gespreizt. Und die sehr brillante Kadenz habe ich erweitert durch die unterschiedlichsten Formen von Multiplikation, angefangen von der einfachen Spiegelung bis hin zur sechs- und mehrfachen Spiegelung, und das Resultat ist nun, daß diese Cadenza, die in Incises so stürmisch verläuft, in sur Incises gleichsam atmet, weil eben die Figuren so vielfältig erscheinen, von der einfachen bis hin zur kompliziertesten Veränderung. So ist eine sehr lange Cadenza für alle entstanden, die ohne Unterbrechung rasend schnell und sehr, sehr schwer zu spielen ist. Und dann gibt es noch einen zweiten Teil mit einem Übergang. In diesem zweiten Teil werden die Prinzipien dieser Cadenza mit der Einleitung, mit der sehr freien Einleitung, vermischt, und zwar ziemlich vollständig, so daß man kaum mehr sagen kann, welche Elemente aus welchem Bereich kommen. Dieser Zustand ändert sich erst mit einer Erinnerung an die Ursprungscadenza, fokussiert in den drei Klavieren. Dies, um zu zeigen, welche Form der Periodizität dem Geschehen zugrunde liegt.
Die Klaviere sind also eindeutig die Prinzipalinstrumente. Gibt es aber auch Übergänge, anders gefragt: Übernehmen Harfen oder Schlagzeuge manchmal die Rolle der Klaviere oder eines Klavieres?
Boulez: Die Schlagzeuge, auch die Harfen, sind manchmal vollständig integriert, manchmal spielen sie eher eine Rolle am Rande, je nachdem. So gibt es einen Abschnitt, wo die Klaviere eine sehr durchgearbeitete Ostinatopassage spielen, also eine sehr strenge kompositorische Strukturschicht, und gleichzeitig spielen die Schlagzeuger sehr freie Figuren. Es gibt aber auch Momente, wo dieses Rollenspiel sozusagen aufgeteilt wird, also ein Klavier und ein Schlagzeug spielen die freien Strukturen, und die anderen Klaviere und die anderen Schlagzeuge sind in die strenge Ostinatoschicht eingebunden usw. Ein weiterer Reiz besteht darin, daß es manchmal sehr, sehr schnelle Wechsel gibt, und dann Abschnitte von konstanten durchgehenden Instrumentenkombinationen. Was die Harfe angeht, so habe ich viele Erfahrungen, die ich mit diesem Instrument bei Répons gesammelt habe, in dieses Stück eingebracht. Man kann die Harfe, wenn man auf den Pedalgebrauch weitgehend verzichtet, ja sehr schnell spielen. Ich habe den Einsatz der Harfen in sur Incises also sehr abhängig gemacht, auch von den unterschiedlichen Geschwindigkeiten, mit denen dieses Instrument gespielt werden kann. Überrascht hat mich selber, was für kraftvolle Klänge mit drei Harfen erzeugt werden können. Ich habe den unterschiedlichen Klangcharakter der Instrumente übrigens auch dadurch hervorgehoben, daß ich die Instrumente in charakteristischer Weise postiere. So kann man auch sehen, was man hört. Ich bin mit den Klangkombinationen in diesem Stück wirklich sehr zufrieden, auch übrigens mit der Art und Weise, wie die gewissermaßen exotischen Instrumente sich integrieren. Ich gebrauche die Steeldrums nicht um ihrer selbst willen als exotische oder folkloristische Farbe, sondern weil sie die herkömmlichen Grenzen der einzelnen Instrumentenfamilien aufsprengen. Man fragt sich, was ist das? Denn dieser Klang gehört zu allen Familien und zu keiner Familie zur gleichen Zeit.
Wolfgang Fink
Baden-Baden, am 18. September 1998
(*) Hommage à Pierre Boulez, Programmbuch der Alten Oper Frankfurt, zusammengestellt von Wolfgang Fink und Josef Häusler