

Mauricio Kagel
Acustica
Dauer: -'
Instrumentierungsdetails:
2 - 5 Ausführende mit Blas-, Zupf- u. Schlaginstr. gewöhnlicher Art sowie einer Anzahl sonstiger Klangerzeuger. Mitwirkung eines Klangregisseurs.
Kagel - Acustica für Instrumentalisten
Werkeinführung
Der Titel des
Werkes will mehr als schmückende Bezeichnung sein; die musikalischen Vorgänge,
die hier stattfinden, wurden von einer nicht gerade schmeichelnden Behandlung
des akustischen Materials angeregt. Bereits in der Erfindung der Klangquellen
äußert sich einer der Grundgedanken dieser Komposition: einerseits sollten neue
Instrumente als selbstverständliche Ergänzung vorhandener Klangerzeuger
entstehen, zum anderen mussten akustische Gerätschaften experimenteller Art
entwickelt werden, deren Handhabung eine differenzierte musikalische Tätigkeit
voraussetzt.
Der Hörer
dieses Stückes wird also mit einem Instrumentarium konfrontiert, dessen
ungewohnter Anblick die Gefahr nicht ausschließt, dass diese bewusste
Erweiterung der Klangskala zunächst als ein Bruch mit dem bereits Bestehenden
empfunden wird. Dagegen weisen diese Klangmittel auf die vielen Lücken im
Kontinuum unserer Signalproduktion hin, welche noch zu erschließen sind:
Instrumente als Symptom von all dem, was bisher unerforscht bleibt.
Nur einige
Beispiele:
eine Kastagnetten-Tastatur mit einer
Durchmesserskala von 4,5 bis 18 cm, die mittels Gitarrenwirbel in der
Anschlagspannung „gestimmt“ werden kann (mit dem Erfolg, dass auch tiefe
Kastagnetten bei äußerst schneller Betätigung deutlich klingen); Schwirrholzsätze nach zwei
verschiedenen Prinzipien aufgebaut (der eine mit aerodynamischem Profil, der
andere mit schlicht primitiven Holzstücken, welche per Hand und Propellergummi
angetrieben werden und die sich selbständig ausdehnen und schrumpfen); Nagelgeige, eine Abwandlung des gegen
Mitte des 18. Jahrhunderts erfundenen idiophonen Reibspiels, bei der 16
Eisenstifte gleicher Dicke aber verschiedener Länge (zwischen 5,1 und 42 cm;
Temperatur: 15. Wurzel aus 8) mit Cello und Kontrabaßbogen gestrichen,
transversal zu schwingen beginnen; Rundstabgeige,
eine Variante der Nagelgeige (9 Holzstäbe zwischen 9,8 und 90 cm; Temperatur:
8. Wurzel aus 9); zwei Schwingersätze,
wie Tastaturen konstruiert, der eine mit 9 Stahllamellen gleicher Länge aber
verschiedener Breite, der zweite mit 7 Lamellen unterschiedlicher Länge und
gleicher Breite; zwei Paar Scabella,
Konkussionssandalen der antiken römischen Chorführer, jedoch mit einem
Scharnier in der Mitte der Sohle versehen, damit der Ausführende auch bei
minimaler Kraftanwendung hörbare Resultate erzielen kann; Angelbrett (Crepitacolo), eine mit verschiedenen Griffen
ausgerüstete Holzplatte, welche je nach Heftigkeit der Bewegung, das Hin- und
Herschlagen der Eisenteile antreibt (eine moderne Fassung der Kirchenglocke im
Urzustand); eine fünfzungige Ratsche
mit gemeinsamer Kurbelwelle, deren Zahnradfrequenz in fünf Stufen abgestimmt
ist, so dass die Lautheit des Geräusches durch Veränderung der Zungenanordnung
beeinflusst werden kann; Schallplattentonabnehmer
und Membranen in mannigfaltigsten
Formen (außer den gewöhnlichen), um den Umweg zur höheren Subfidelität zu
erkunden: u. a. Plastiktrichter und Mundhöhle, Messerfeder und Ukulele,
Sandpapier und Reißzwecknagel, Streichhölzer mit und ohne Schachtel; Querstromlüfter zur
Klangfarbenmodulation; Ballons als
Resonatoren für Blasinstrumente und als (zurückgewonnener) Luftvorrat bei der
Erzeugung oraler Vorgänge inhalierenden Charakters; Pfeifenast, ein ca. 40 m langer dünner Schlauch mit Abzweigungen,
an deren Spitzen Orgelmixtur- und Spielzeug(zungen)pfeifen angebracht sind,
dessen endlicher Energiestrom aus einer 1 m3 fassenden Pressluftflasche fließt
(ein „Aerophon“ zur kollektiven Betätigung, wo nur großzügig handelnde
Ausführende mitspielen sollten: zweigt einer der Spieler den Luftstrom nur für
sich ab, so verstummen alle anderen unweigerlich); ein Gas-Lötbrenner zur Anregung von Schwingungen in Röhren, bei dem
Veränderung der Teiltonfrequenz durch Umbauten erreicht wird; Dämpfer für Blasinstrumente mit
eingebautem Lautsprecher, die durch Tonbandwiedergabe von Blastönen eine
perfekte Zweistimmigkeit erlauben; Megaphone,
ebenfalls mit eingebautem Lautsprecher (ursprünglich ein Vorschlag von mir,
damit Protestierende in Situationen, wo die andere Seite aussichtlose Lautstärken
anwendet, das kraftsparende Taschentonbandgerät einschalten können); ein Summenlautsprecher (von „Summe“ und
„summen“), dessen Membran im Laufe der Aufführung mit verschiedenen Requisiten
bearbeitet wird (um endlich das Gerät „Lautsprecher“ auch als „Instrument“
Lautsprecher einzusetzen).
Acustica
besteht aus zwei – fast getrennten – Ebenen: die eine wird durch die Wiedergabe
eines Vier-Spur-Tonbandes mit endgültig festgelegtem Ablauf gebildet, während
die zweite beim Spiel von zwei bis fünf Instrumentalisten entsteht, das in der
Zusammenstellung des musikalischen Materials und der Art des
Aufeinanderreagierens von Aufführung zu Aufführung verändert werden kann. Die Durchdringung
beider Ebenen habe ich absichtlich vermieden, weil ich – auch in Werken von mir
selbst mit ähnlicher Problematik – stets den Eindruck hatte, dass die
angestrebte Verschmelzung von elektronischer und instrumentaler Musik beim
Hören im Saal mehr Wunschdenken als klangliche Wirklichkeit ist. (Dagegen ist
diese Verschmelzung ohne weiteres erreichbar, wenn die Summe aus dem
Lautsprecher ertönt.)
Die Übertragung
von ernster (!) Musik durch symmetrisch aufgestellte Lautsprecher im Raum hat
in seltsamer Weise eine wahre, endlich verdiente Demokratisierung des
Hörplatzes verhindert: bevorzugt werden jetzt viel weniger Zuhörer als früher,
weil die optimalen Sitze für den „kultivierten Hörgenuss“ fast ohne Ausnahme in
der Mitte des Saales zu finden sind. Will man dagegen den Weg des diffusen
Lautstärke-Terrors nicht einschlagen – jene akustische Gewalt, welche auf Fans
immer frontal ausströmt –, weil der Preis für diese befreiende Lautheit noch
höher als die schwungvolle Abstumpfung der Gehörnerven erscheint, dann
schrumpfen zunächst die Möglichkeiten einer großzügigeren Wiedergabe elektroakustischer
Musik auf wenige Lösungen mit durchwegs utopischem Charakter.
Die
Hörbarmachung dieser ungelösten Aufgabe war auch ein Thema von Acustica.
Das
Vier-Spur-Tonband wurde im Winter 69 im Studio für elektronische Musik des WDR
erstellt. Es besteht aus rein elektroakustisch erzeugtem Material sowie
Aufnahmen von Instrumental- und Vokalklängen, die nicht den heute üblichen
elektronisch gesteuerten Manipulationen unterworfen wurden. Ausgangspunkt
dieser Tonbandkomposition war die möglichst homogene Verbindung zweier in der
Natur ihrer Produktion unähnlicher Klangkategorien (eine Verbindung, welche mit
Verfremdungen der konkreten Aufnahmen durch Filtrierung, Ringmodulation und
Veränderung der Tonbandwiedergabe mir zu vereinfacht erschien). Die „Anschaulichkeit“
elektroakustischer Denaturierungsmethoden sollte durch eine
physikalisch-technische Entsprechung in der Behandlung von instrumentalen
Klangerzeugern und operativer Elektroakustik ersetzt werden.
So versuchte
ich – nur theoretisch zunächst, dann pragmatisch – einen Katalog herzustellen
von den gängigen bis zu den hoffnungslos verstrickten Schaltungsmöglichkeiten
aller im Studio vorhandenen Apparaturen, um mich von jener leisen Ohnmacht zu
befreien, die mich jedes Mal überfällt, wenn ich ein Studio für elektronische
Musik betrete. Eine „instrumentale Haltung“ dem Gerät gegenüber bringt dieses
vielleicht wieder in jene Dimension des Zugänglichen, in der sich etwa
Experimentier-Apparaturen der Physikstunde befinden. Die völlige
Umfunktionierung der Schaltwand wäre dann das Ziel einer sich selbst
produzierenden Forschung acomputischen Charakters, deren Ergebnisse – ähnlich
mancher gelungenen Beobachtungen der Naturwissenschaft – nur dem glücklichen
Umstand zu verdanken ist, dass der Forscher etwas anderes suchte.
Die
Ähnlichkeit zwischen der Prozedur zur Komposition des elektronischen Materials
und der Art, wie ich Instrumente und deren interpretative Funktion einsetze,
machten also eine mechanische (weil elektrische, aber mit Hand getriebene)
Umwandlung der Tonaufnahmen unnötig.
Für seine
Mitarbeit bei der Herstellung des elektronischen Teiles danke ich Werner Scholz
ganz besonders.
Den
instrumentalen Teil des Werkes möchte ich dagegen nicht als abgeschlossen
betrachten. Bei der Entstehung habe ich viele andere experimentelle
Klangerzeuger entworfen, die ich auch gerne in dieser Komposition verwenden
will. Also: 1968 / . . . (sowie drei autonome Fassungen: für Tonband und
Instrumentalisten, für Tonband, für Instrumentalisten). Vorläufig wurde die Partitur
auf ca. 200 DIN A 5- Karteikarten notiert. Reihenfolge der Karten und Art des
Zusammenspiels sind nicht vorgeschrieben, sondern sollen bei den Proben der
zwei bis fünf Ausführenden erarbeitet werden.
Die Blätter
weisen stets ein Zeichen in der oberen rechten Ecke auf, welches das
Hauptinstrument der Karte symbolisiert. Jede Aktion – mit teilweise recht
komplexem szenisch/musikalischen Verlauf – ist genauestens notiert. Die Spieler
müssen die eingeräumte Freiheit in der Wahl des Zeitpunkts ihrer Mitwirkung durch
eine perfekte Beherrschung von Text und Kontext honorieren. Nur so kommt der
Ausführende über die bloße Reproduktion seiner Partie hinaus, um einer
unzweideutigen Gemeinschaft von Musikern beizutreten, die in ihrer
Interpretationsweise das Hören der anderen in ihr Spiel einbeziehen als wären
sie Zuhörer ihrer selbst.
Acustica, meine
umfangreichste Arbeit der letzten Jahre, ist in memoriam Alfred Feussner
geschrieben, meinem so früh verstorbenen Freund.
Mauricio
Kagel