Johannes Maria Staud
Apeiron
Kurz-Instrumentierung: 4 4 5 4 - 6 4 4 1 - Schl(6), Hf(2), Klav(Cel), Str(16 14 12 10 8)
Dauer: 21'
Widmung: für Bálint András Varga in tiefer Verbundenheit
Instrumentierungsdetails:
1. Flöte
2. Flöte (+Picc)
3. Flöte (+Picc)
4. Flöte (+Afl(G))
1. Oboe
2. Oboe
3. Oboe
Englischhorn
kleine Klarinette in Es
1. Klarinette in B
2. Klarinette in B
3. Klarinette in B
Bassklarinette in B
1. Fagott
2. Fagott
3. Fagott
4. Fagott (+Kfg)
1. Horn in F
2. Horn in F
3. Horn in F
4. Horn in F
5. Horn in F
6. Horn in F
1. Trompete in C
2. Trompete in C
3. Trompete in C
4. Trompete in C (+klTrp)
1. Posaune
2. Posaune
3. Posaune
4. Posaune (+Kbpos)
Tuba
1. Schlagzeug (Pauken)
2. Schlagzeug
3. Schlagzeug
4. Schlagzeug
5. Schlagzeug
6. Schlagzeug
Klavier (+Cel)
1. Harfe
2. Harfe
Violine I (16)
Violine II (14)
Viola (12)
Violoncello (10)
Kontrabass (8)
Staud - Apeiron für großes Orchester
Übersetzung, Abdrucke und mehr
Johannes Maria Staud
Staud: Apeiron. Musik für großes OrchesterInstrumentierung: für großes Orchester
Ausgabeart: Studienpartitur
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Hörbeispiel
Werkeinführung
Beschäftigt man sich eingehender mit dem Werk und der Kunsttheorie Leonardo da Vincis (1452 - 1519), so wird einem bewusst, wie überzeugend dieser Künstler die leider allzu oft durch Polemik getrennten Sphären von klarem, naturwissenschaftlich-analytischem Denken sowie inspiriertem, poetischem Ausdruckswillen zu verbinden wusste. Dass beide untrennbar zusammengehören, war ihm ebenso klar, wie dass das eine ohne das andere nicht existieren könnte, weil sie im übergeordneten Sinn eine Einheit bilden.
Leonardos Glaube an die Einheitlichkeit der Welt und all ihrer Erscheinungen (die Kunst inbegriffen), die durch eine allem zugrundeliegende ursprüngliche Bewegung, den 'primo motore', in Bewegung gehalten wird, lässt sich sehr schön an einem Zitat belegen: "Nun, so sieh doch, wie der Mensch, gleichwie der Falter beim Anblick des Lichts, stets die Hoffnung und Sehnsucht hat, in das Urchaos heimzufinden oder zurückzukehren. ... Diese Sehnsucht, heimzufinden, ist in solcher Quintessenz der Geist der Elemente, der eben, da er im Leben des menschlichen Körpers eingeschlossen ist, immer zu seiner Quelle zurückzukehren wünscht. Und du solltest wissen, dass dieser Wunsch in solcher Quintessenz der Natur eigen ist und dass der Mensch nichts anderes ist, als das Muster der Welt." Das momentane Gleichgewicht der Welt sei fragil was daher rühre, dass "die Natur rastlos am Werk ist und Gefallen an der Erzeugung und Bildung immer neuer Leben und Formen findet [und dabei] im Erzeugen eifriger und schneller ist als die Zeit im Zerstören."[1]
Zweifelsohne bezieht sich Leonardo mit diesen Überlegungen auf die vorsokratische Philosophie, die er durch Aristoteles‘ (Physik) und Ovids (Metamorphosen) Überlieferung kennen gelernt hat.
Das durch Anaximander (611-546 v. Chr.), einem Schüler von Thales definierte Gegensatz-paar Apeiron (das Unbegrenzte, Unendliche) – Peras (das Bestimmte, die Ordnung) war für Leonardos Werk ebenso bestimmend wie deren Glaube an eine geometrische Struktur des Kosmos. Hinter allen gegensätzlichen Erscheinungen (Gegensatzpaaren wie Kalt/Warm, Blühen/Verwelken, Geburt/Tod, Tag/Nacht) steckt der gleiche, unzerstörbare, im innersten Wesen unveränderliche Urgrund. Es gibt deshalb auch kein Vergehen ins oder ein Entstehen aus dem Nichts. Eine immaterielle Bewegung, eine geistige Kraft, die niemals aufhört, Ursache allen Lebens ist, bestimmt somit auch die Wechselwirkung zwischen den mathematischen Naturgesetzen und den natürlichen Strukturen des Lebendigen (und somit auch des Künstlerischen). Die Struktur, der Aufbau eines Kunstwerkes (als Abbild des Lebens) ist somit untrennbar mit seinem poetischen Gehalt verbunden.
So sind wohl auch die nach dem Goldenen Schnitt (nach dem Vorbild der Natur) erbauten gotischen Kathedralen, die Bilder Piero della Francescas ebenso wie das aus der Proportionslehre der Renaissance (Vitruv’scher Mensch) Konsequenzen ziehende künstlerische und theoretische Werk Leonardos oder Albrecht Dürers als stimmige Fortsetzung des vorsokratischen Modells anzusehen. Auch in der Musik sind ähnliche Überlegungen (die teilweise auch auf hörpsychologischen Gründen beruhen) spätestens seit dem 20. Jahrhundert allgemein bekannt. Als Beispiele seien Anton Weberns Beziehung auf Goethes Urpflanzen-Modell (zwingender Zusammenhang zwischen dem kleinsten Werkbaustein und der Gesamtform, etwa in der Symphonie op.21), Béla Bartóks Verwendung des Goldenen Schnitts nach der Reihe des Mathematikers Fibonacci (etwa in der Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta) oder Iannis Xenakis‘ Beschäftigung mit organischen Wachstums- und Wucherungsmodellen genannt.
Die Annahme eines unveränderlichen Urgrundes, der sich in seinen Erscheinungen ständig wandelt, vergeht und entsteht, im Innersten aber unzerstörbar bleibt, hat mich während der Arbeit an diesem Werk nicht mehr losgelassen, ja sie scheint mir das Wesen von Musik überhaupt zu treffen. Nun war mir natürlich klar, dass 1:1 -übertragene Analogien in der Kunst niemals funktionieren können. Deshalb habe ich auch keinen Augenblick daran gedacht, Philosophie in Musik zu 'übersetzen'. Was ich aber versucht habe, war, das Unbegrenzte (die rein kombinatorisch klangliche Unendlichkeit eines großen Orchesterapparats) mit dem Bestimmten (der Ableitbarkeit aus einigen wenigen Grundbausteinen sowie der klaren formalen, auf einfachsten arithmetischen Beziehungen fußenden Strukturierung) in Einklang zu bringen. Mein Ziel war es, eine möglichst große Vielfalt an musikalischen Begebenheiten zu erfinden, die aber nicht episodisch, sondern nach einer werkspezifischen Dramaturgie stets entwickelnd angelegt sind. Auch vom Gestus scheinbar völlig unterschiedliche Abschnitte sind stets auf übergeordneter Ebene miteinander vernetzt, sei es nun harmonischer, rhythmischer, melodischer oder klanglicher Natur.
Das ganze Werk (ca. 20‘), das für 101 Musiker besetzt ist, besteht aus sechs Großabschnitten von teilweise sehr unterschiedlicher Dauer. Es führt vom sanften Innehalten bis zur orgiastischen Extase, vom kammermusikalischen Quasi-Concerto zu blockhaft gesetzten Abschnitten, die wiederum von dichten, polyphonen oder mixturähnlichen Teilen, unaufhaltsam vorwärtstreibenden oder beinahe verstummenden Passagen abgelöst werden.
Im Grunde war es vielleicht nur ein Versuch, für die Dauer des Erklingens den Eindruck zu erwecken, im Erzeugen und Bilden neuer Leben und Formen eifriger und schneller zu sein als die Zeit im Zerstören.
Dieses Werk ist Bálint András Varga in tiefer Verbundenheit gewidmet.
Johannes Maria Staud
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[1] Leonardo da Vinci. Folio 156v (LT 11-12) des Codex Arundel. In: Daniel Arasse, Leonardo da Vinci. S.131. 1999, Köln, Dumont.