Johannes Maria Staud
Celluloid
Dauer: 10'
Widmung: für Joachim Hans komponiert
Solisten:
Fagott
Staud - Celluloid für Fagott
Hörbeispiel
Werkeinführung
In der Konzertsaison 2010/11 fungierte Johannes Maria Staud als „Capell-Compositeur“ der Sächsischen Staatskapelle Dresden und komponierte für diesen Klangkörper bzw. dessen Mitglieder drei Werke unterschiedlicher Besetzung. Für den Solofagottisten der Sächsischen Staatskapelle, Joachim Hans, schrieb er das Solostück Celluloid, dessen Titel sich auf ein Gedicht von Rolf Dieter Brinkmann bezieht, der darin von der „endlosen Ausdehnung von Celluloid“ spricht.
„Das Fagott ist meiner Meinung nach ein etwas unterschätztes Instrument. Erst seit wenigen Jahren, spätestens seit Luciano Berios Sequenza, scheint sich das etwas zu ändern. Das empfand ich ganz ähnlich wie bei den alten Celluloid-Bändern, die im heutigen Zeitalter der Digitalisierung leider kaum mehr gespielt werden ...“ (Johannes Maria Staud).
Celluloid setzt nach etwa zehn Sekunden Innehalten als Ruheinsel vor dem eigentlichen Klanggeschehen in ebenso zarten wie leisesten Resonanzgeräuschen ein, die mit leichtem Schnalzen der Zunge auf das Rohrblatt des Fagotts erzeugt werden. Glissandi und Flatterzunge werden in den ersten Takten über stetigen dynamischen Abstufungen bis zum vierfachen Piano als farbliche Elemente gesetzt. Jedem Takt ist ein neues Metrum vorgeschrieben. Allmählich kommen neue Effekte dazu, etwa ein „Pizzicato“, das durch weiches Schnalzen der Lippen auf die Rohrblattspitze entsteht. Im folgenden Abschnitt wird die Textur „aufrauschend, federnd und vorwärts treibend“ in figurativen Sextolen und Triolen belebt, das Tempo dabei gesteigert. Der Komponist sieht gelegentlich Klangeffekte vor, die dem Fagottschüler „verboten“ sind, indem er von der Tonproduktion punktuell viel angeschobene „Nebenluft“ verlangt. In einer gestisch wirksam pointierten Passage wird „das Rohrblatt plötzlich, unterstützt von einem kräftigen Zwerchfell-Akzent aus dem Mund gerissen“. Kein Takt bleibt ohne dynamische Aufladung, kein Takt ähnelt dem anderen. Auf dem Höhepunkt des zweiten Formteils setzt der Komponist sogenannte Multiphonics, aus spezifischem Lippen- und Blasdruck generierte reiche Akkorde aus Spektralklängen, ein.
Als deutlich hörbare Schnittstelle zum dritten Abschnitt („wild, entfesselt und hemmungslos“) fungiert ein lang ausgehaltener Ton im dreifachen Forte, der modifiziert wiederkehrt. Die Fagottstimme ist nun durch klare Zäsuren mittels Pausen und variierten Wiederaufnahmen (Diminutionen/Augmentationen) von Bausteinen gekennzeichnet. Zwischen entwickelnd variierten Multiphonic-Elementen wird als neue Spieltechnik das sogenannte „Berio-Tremolo“ eingeführt. Mit der Verdichtung der Struktur, die der Charaktervielfalt des Fagotts Rechnung trägt, geht eine immer stetiger wechselnde Mikroartikulation einher. „Weich, biegsam und geschmeidig“ setzt der nächste Abschnitt von Celluloid an, hörbar an den abwechselnd ritardando und accelerando zu spielenden, lang gezogenen Trillern.
Mit „sanft, zerbrechlich und verinnerlicht“ ist der fünfte Teil überschrieben, der mit Mehrklängen und Trillern den dynamischen Bereich des ersten aufgreift. Eine sich allmählich verdichtende Zone leitet zu einem stark kontrastierenden Finale („heftig, herb und gnadenlos“) über. Für zehn Sekunden auszuhaltende Stille schließt den Bogen zum Werkbeginn.
Celluloid wurde in enger Zusammenarbeit mit Pascal Gallois, der Staud „bei allen fagott-spezifischen Fragen beraten hat“, entwickelt und ist diesem gewidmet. Gallois’ Standardwerk Die Spieltechnik des Fagotts (2009) stellt zugleich die Referenzquelle für alle in Celluloid verwendeten Fingersätze, Spezialtechniken und Spielanweisungen dar.
© Therese Muxeneder, 2012