Wolfgang Rihm
Jakob Lenz
Kurz-Instrumentierung: 0 2 1 1 - 0 1 1 0 - Schl(1), Cemb, Vc(3)
Dauer: 75'
Libretto von: Michael Fröhling
Dichter der Textvorlage: Georg Büchner
Widmung: dem Andenken meines verehrten Lehrers Eugen Werner Velte (1923–1984)
Rollen:
Lenz
Bariton
Oberlin
Bass
Kaufmann
Tenor
6 Stimmen: 2 Soprane
2 Alte
2 Bässe
2 oder 4 Kinder
Instrumentierungsdetails:
1. Oboe
2. Oboe (+Eh)
Klarinette in B (+Bkl(B))
Fagott (+Kfg)
Trompete in C
Posaune
Schlagzeug (1): Röhrenglocke, Woodblock, 3 Hängebecken, großes Tam-Tam,
hell klingender Amboss, Peitsche, kleine Trommel, Bongo, mittleres Tomtom, große Trommel
Cembalo
1. Violoncello
2. Violoncello
3. Violoncello
Rihm - Jakob Lenz Soli und Kammerensemble
Gedruckt/Digital
Übersetzung, Abdrucke und mehr
Wolfgang Rihm
Rihm: Jakob Lenz für Soli und KammerensembleInstrumentierung: für Soli und Kammerensemble
Ausgabeart: Studienpartitur
Sprache: Deutsch
Wolfgang Rihm
Rihm: Jakob Lenz für Soli und KammerensembleInstrumentierung: für Soli und Kammerensemble
Ausgabeart: Klavierauszug
Sprache: Deutsch
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Hörbeispiel
Werkeinführung
Jakob Lenz zählt zu den erfolgreichsten Kammeropern der letzten Jahrzehnte. Sie setzt sich aus 13 Bildern zusammen. Das Libretto von Michael Fröhling übernimmt dabei Situationen und Dialogmomente aus Georg Büchners „Lenz“-Novelle, enthält aber auch Gedichte von Lenz selbst sowie Zitate aus Briefen von Lenz’ Freunden und aus der Hauptquelle Büchners, dem Rechenschaftsbericht des Pfarrers Oberlin. Drei Wochen war der an Schizophrenie erkrankte Lenz bei ihm zu Gast in den Vogesen, doch der erhoffte Heilungserfolg blieb aus. Die Verschiebung und Fragmentierung der Texte bringt die Spaltung des Lenz in wahrhaft zwingender Weise zum Ausdruck.
Rihm Musik setzt mit einem vergleichsweise kleinen Apparat faszinierende Klangwelten frei: drei Sänger – der Dichter Lenz, sein Gastgeber Oberlin und der gemeinsame Freund und Literat Kaufmann –, ein sechsstimmiges Vokalensemble, dessen Gesänge nur von Lenz wahrgenommen werden, und elf Instrumentalisten. Rihm mischt Anklänge verschiedenster musikalischer Welten von Bach und Schumann bis hin zu Bergs Wozzeck zu einer ganz eigenen, extrem körperlich-sinnlichen Klangsprache.
Alles ist dabei quasi „nach innen gezogen“, die instrumentale Gestalt wird sozusagen zum Transportmittel der ausweglosen seelischen Situation: „Extreme Kammermusik, immer auf dem Sprung in die Hauptperson. Obwohl Lenz auf vielen Ebenen handelt oder zu handeln versucht oder zu handeln glaubt, hat er keinen Handlungsspielraum. Deshalb ist er auch eng verwoben in den ihn umgebenden Klang. (Rihm).
Über dem gesamten Werk waltet ein bohrender Schmerz: Halluzinationen einer zerstörten Kreatur, Klang-Obsessionen, Wahrheiten aus dem bloßliegenden Unbewussten. Insgeheim gehorcht die Dramaturgie des Werkes derjenigen einer Passion. Obgleich klein besetzt, entfaltet Rihm ein dynamisches Spektrum, das die Oper für große Bühnen prädestiniert.
Kammeroper
heißt nicht: Operchen. Es ist vielmehr – ähnlich dem Verhältnis Kammermusik/Sinfonie – die andere Art, musikalisch auf der Bühne zu reden. Der bewegliche Apparat erlaubt eine komplizierte Stimmenführung. Was bei großer Besetzung einfach konzipiert sein muss, um die Komplexität zu erreichen, die es womöglich meint, das kann in einer Kammerbesetzung schärfer und vielsträhniger formuliert werden. Es ist also das Sujet, das diese Darstellungsart vertragen können muss oder besser: provoziert.
Büchners Lenz
ist eine Zustandsbeschreibung innerhalb eines Zerfallprozesses. Momente einer bereits vollzogenen – aber noch nicht akzeptierten – Verstörung. Diese wird evident an den Berührungspunkten zur Umwelt. Und diese Berührungspunkte wiederum sind es, die Michael Fröhling versuchte, szenisch nachzustellen. Lenz ist immer gleich verstört; nur die Nähe der Umwelt zu dieser Verstörung wächst oder schwindet.
Die musikalische Konsequenz
Aus dieser Zustandsbeschreibung ist eine Stunde extreme Kammermusik. Immer auf dem Sprung in die Hauptperson; eigentlich kein Kommentar, sondern die Hauptperson selbst als vielschichtige Handlungsebene. Obwohl Lenz auf vielen Ebenen handelt oder zu handeln versucht oder zu handeln glaubt, hat er keinen Handlungsspielraum. Deshalb ist er auch eng verwoben in den ihn umgebenden Klang. Die Stimmen, die nur er hört, sind genauso er selbst, wie die beiden Männer, mit denen er zusammenkommt (der liberale Pragmatiker Oberlin und der in jeder Situation „richtig“ handelnde, alerte Kaufmann), die Reaktionen hervorbringen, die er im Innersten wünscht. Die allgegenwärtige Friederike ist ebenso seine Innenwelt wie die Natur; die er gar nicht mehr anders wahrnehmen kann, es sei denn personalisiert – belebt oder tot.
Die Musik steht also immer vor der Aufgabe, sowohl „Situation“ zu motivieren (durch Atmosphäre) als auch psychologische Konstante in einer gespielten Handlung zu sein (durch ein Netz verstrickter Bezüge in sich).
Der kompositorische Prozess
Dezember 1977 bis Juni 1978 – war identisch mit dem stufenweisen Verstehen einer Existenz wie der von Jakob Lenz. Die historische Figur trat, je genauer sie datisch und atmosphärisch in meinem Intellekt anwesend war, aber zurück zugunsten einer Chiffre von Verstörung, als die ich Lenz dann begriff.
Von da aus erklären sich die Versuche, ihm zu nahen, – eingeschlossen: mein Versuch, ihn durch musikalische Darstellung zu interpretieren -, als gescheitert, weil Lenz wesentlich der Scheiternde selbst ist. Darstellbar bleiben nur noch die nackten Stadien dieses Scheiterns – also auch des Scheiterns derer, die Lenz „helfen“ wollen, z. B. – während Lenz selbst bereits in einem festgefahrenen Zustand der vollzogenen Verstörung verharrt. Ich komponierte mich in diesen Zustand, soweit wie mir möglich, hinein. Das Insistieren mancher rhythmischer und harmonischer Konstellationen ist der greifbare Ausdruck für die immer wieder eintretende Starre der Hauptperson. Ein Klang durchzieht das ganze Werk.
Die musikalische Bühne
Ist für mich der Ort des Sehr-Märchenhaften und des Sehr-Menschlichen. In Jakob Lenz schlägt das Menschliche oft ins Märchenhafte um, weil die Realistik einer sich selbst zuredenden, verstörten Seele irreale Züge annimmt, oder wir das einfach nicht anders verstehen können als nicht real. Eine Person wie Jakob Lenz auf der Bühne ist kompliziert allein dadurch, weil sie selbst mehrere Bühnen in sich birgt. Diese ständig präsenten Bühnen muss die Musik repräsentieren. Ich habe dies auf die direkteste Art versucht: die musikalischen Schichten nicht säuberlich getrennt, sondern eben ständig präsent gehalten, bis sie – jeweils ihrer eigenen Dramaturgie gehorchend – hervorbrechen müssen. Im Überblick gewinnt die Großform Züge eines mehrschichtig durchgeführten Rondos; eine Art Rondorelief, weil psychologische Nähe und Ferne musikalisch ja als atmosphärische Relationen perspektivisch ausformuliert werden.
Vor allem gilt: der Faden, an dem Jakob Lenz hängt, ist der Strom ins Herz der Hörer.
Wolfgang Rihm (Jänner 1979)